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Kommentar Sozialleistungen UkraineFatale Entscheidung in Kiew

Bernhard Clasen
Kommentar von Bernhard Clasen

Auch die Bewohner des Donbass sind Ukrainer. Die Entscheidung der Regierung, soziale Leistungen im Osten zu streichen, ist kurzsichtig.

Die Sympathie für Separatisten ist groß in Donezk. Die Armut aber auch. Bild: Reuters

D er Rechtsstaat ist für alle da, auch für Gegner der Regierung. Auch die Renten sind für alle da, die in die Rentenversicherung einbezahlt haben. Mit ihrer Entscheidung, Bewohnern der abtrünnigen Gebiete der Ostukraine sämtliche Leistungen zu kappen, trifft die Kiewer Regierung nicht die Bewaffneten und Anführer der abtrünnigen Teile der Ostukraine.

Allen alten und kranken Menschen in Donezk und Lugansk, die ihre Heimat schon allein aus gesundheitlichen Gründen nicht verlassen können, wird dadurch die Lebensgrundlage entzogen. Es ist zu befürchten, dass im kommenden Winter in der Ostukraine mehr Menschen durch Hunger und Kälte ihr Leben verlieren werden als durch Kugeln und Luftangriffe.

Kiew hat sich mit seiner Entscheidung, Rentnern, Behinderten, Kriegsveteranen und alleinerziehenden Müttern im nicht von Kiew kontrollierten Osten alle Zahlungen zu kappen, auch selbst einen Bärendienst erwiesen. Gerade jetzt, wo man in den Gebieten Donezk und Lugansk immer weniger an eine Zukunft in Russland glaubt, hätte man deren Bevölkerung zeigen können, dass man sie nicht vergessen hat. Auch die Bewohner des Donbass sind Ukrainer.

Kiew wollte mit seiner Entscheidung den Machthabern von Donezk und Lugansk den Boden entziehen. Das Gegenteil wird wohl eintreten: Die Menschen dort entfremden sich weiter von der Kiewer Zentralregierung. Die Ärmsten der Armen im Osten des Landes werden diese Regierung nun noch mehr hassen. Wenn Kiew die Bevölkerung im Osten des Landes für sich gewinnen will, müsste es ihr Angebote machen, die man nicht ablehnen kann: Sozialleistungen, Wiederaufbau und Autonomie. Es sieht ganz so aus, als habe Kiew Lugansk und Donezk bereits abgeschrieben.

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Bernhard Clasen
Journalist
Jahrgang 1957 Ukraine-Korrespondent von taz und nd. 1980-1986 Russisch-Studium an der Universität Heidelberg. Gute Ukrainisch-Kenntnisse. Schreibt seit 1993 für die taz.
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9 Kommentare

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  • PS. Wer den Gegenbeweis liefern kann, dass das Kiewer Geld wirklich von den Separatisten in den Rathäusern verteilt wird und bei den Bedürftigen ankommt, darf mich gerne korrigieren.

    Damit ich nicht falsch verstanden werde: Der Donbass hatte 1991 mit 95% für die Unabhängigkeit von Russland gestimmt. Die Ukraine hat also die Pflicht, ihre territoriale Integrität auch dort gegen den bewaffneten Eingriff von außen zu verteidigen. Dabei wurden jedoch Krankenhäuser demoliert, die vorher von schwerbewaffneten Separatisten eingenommen wurden.

    Und natürlich haben die Bürger in Lugansk und Donetzk das Recht, ähnlich wie die Jugend auf dem Maidan, für ihre eigenen sozialen Vorstellungen, z.B. nach Autonomie, zu kämpfen. Solange sie sich jedoch vollständig dem Ausland in Form von Putins silowiki - seinen bewaffneten Diensten - unterwerfen müssen, ist ihre Sache unhaltbar.

  • Das ist eine falsche Darstellung der Situation. Kiew hat die militärische und Grenzkontrolle über den Donbass komplett verloren, das heissst, es kann gar nicht mehr kontrollieren, dass die Zahlungen die Menschen überhaupt erreicht, d.h. die verarmte Ukraine würde damit selbst die russischen Agenten (und keine Rentner und Bedürftige) finanzieren.

     

    Die neuen Volkskommissare brüsten sich (siehe FAZ von heute) schon über die großzügigen Sozialzahlunge aus Moskau.

    Es gibt kaum noch einen Unterschied zwischen Transnistrien und dem Status Quo im Donbass. Militärische Gewalt macht den entscheidenden Unterschied, der Westen hat die Ukraine ermutigt, sich zu demokratisieren, aber die militärischen Mittel zur Verteidigung der Grenzen verweigert er.

  • Diese Entscheidung der Kiewer Regierung ist nur konsequent, denn sie behandelt die Menschen in den "abtrünnigen" Regionen schon seit Monaten als Feinde und Kriegsgegner. Das Aushungern durch Verweigerung der rechtmäßigen Sozialleistungen ist nur eine weitere Kriegswaffe. Warum auch sollte man Menschen Brot und Heizung zahlen, denen man gleichzeitig Granaten in die Häuser schießt?

  • Es ist ja fraglich, ob die Nation der ‘‘Ukrainer‘‘ überhaupt existiert.

     

    Ja, und vielleicht gibt es ja wirklich Marsmännchen. +

     

    Die Ukraine jedenfalls,ist als unabhängige Nation von sämtlichen Staaten der Welt anerkannt. Sind sie einem Phantasma aufgesessen?

    • @ingrid werner:

      @Ingrid

      Der Staat namens Ukraine existiert schon. Also, naja, mehr schlecht als recht- die Verwaltung ist ineffizient bis nicht vorhanden, die staatlichen Institute allesamt äusserst instabil, die Grenzen umstritten und veränderlich. Aber als Staat ist die Ukraine anerkannt, das streitet niemand ab.

       

      Aber die Ukraine als Nation gibt es nicht. Das war eine sowjetische Erfindung aus den 20er und 30erjahren, ebenso wie die ukrainische Sprache. Die ukrainische Nation ist ebenso künstlich, wie es einst die DDR, die Tschechoslowakei und Jugoslawien waren. Die waren zwar auch international anerkannte Staaten, sind aber allesamt untergangen. Momentan schauen wir dem Untergang der Ukraine zu.

      • @Zuegelmann:

        Mir fehlt die Kenntnis, inwiefern die ukrainische Sprache "künstlich" ist, und ich will sie nicht verächtlich machen. Sicherlich wird es viele Leute geben, die sie oder verwandte Dialekte sprechen. Da ich einigermaßen polnisch und recht gut russisch kann, kommt mir das Ukrainische wie Russisch mit einem polnischen Einschlag vor, na ja, und ein paar eigene Worte gibt es auch.

  • Es ist ja fraglich, ob die Nation der ‘‘Ukrainer‘‘ überhaupt existiert. Viele, gerade auch viele Bewohner der Ukraine selber, halten diese sowjetische Schöpfung aus den 30erjahren für künstlich und ohne massiven staatlichen Druck – Verbot des Russischen, massive Indoktrinierung in den Schule, beispiellose ukrainische nationalistische Propaganda auf den Kanälen der Oligarchen – für nicht überlebensfähig. Von da her ist die kategorische Aussage, auch Donbasser seien Ukrainer, kritisch zu hinterfragen.

     

    Abgesehen davon hat die Ukraine schlicht kein Geld, um überhaupt irgendetwas zu bezahlen. Zum bezahlt der reiche Donbass nun keine Abgaben mehr, zum anderen sind die Kriegskosten horrend, drittens erreichte unter Poroschenko die Korruption noch grössere Ausmasse und wird der schäbige Rest dessen, was einst der ukrainische Staat war, gnadenlos ausgeplündert. Auch in Kiew und der Westukraine wurden Renten und Sozialleistungen massiv gekürzt und werden nur mit monatelanger Verspätung ausbezahlt.

  • "Auch die Bewohner des Donbass sind Ukrainer."

     

    ***

     

    Auch die Bewohner der Ukraine sind Ukrainer, aber "Kiew" ist pleite. Demnächst wird es in der ganzen Ukraine so sein.

     

    Das ist erst der Anfang.

    • @Gregor Hecker:

      so langsam wird das zitat von klaus helge: "das vorgehen putins ist nicht überzeugend" echt lustig denn:

       

      poroschenko kann deshalb keine sozialleistungen zahlen, weil das angeblich so veraltet und verkrustete donbass die ganzen staatseinnahmen der ukaraine generiert hat. die kohle ist futsch. im wahrsten sinne des wortes. aber eben auch im übertragenen. dieses nicht zu gebrauchende brachland sind wir los.

      da darf sich jetzt putin drum kümmern - die arme sau.

      na klar kostet ihn das auch was. ein bergmann will rente. aber nur die hälfte eines kiewer studenten. und dank staublunge ist er mit 68 tot. obama macht sich schon richtig sorgen. unglaublich.

      andererseits ist putin nicht so nett: seine überwachungsflugzeuge und die piloten hat er sowieso. ab sofort werden sie us-amerikanische kräfte und ressourcen binden. den ami also geld kosten.

      putin führt nirgendwo krieg. nichtmal in der ukraine.

      die usa haben grade 2 fette kriege verloren. die aber deswegen nicht vorbei sind.

       

      und auch wenn es nur eine petitesse ist: in städten wie detroit sind die USA auf dem weg zum agrarland. das ist kein witz.

       

      cya cyctologie