Kommentar Sozialdemokratie: Notbremsung und Notlösung
Viele der verbliebenen Anhänger wählten die SPD trotz und nicht wegen Steinmeier. Eine Bundestagswahl ist immer auch eine Abstimmung über die Personen an der Spitze.
S chlimmer geht immer. Wer die SPD am Sonntag an ihrem absoluten Tiefpunkt angekommen sah, könnte sich noch wundern. Selbst die Treuesten der Treuen, die sich diesmal noch einmal dazu durchrangen, SPD zu wählen, werden dies nicht automatisch wieder tun. Schon gar nicht wird die SPD verlorene Stimmen zurückholen, wenn sie einfach weitermacht wie bisher. Eine Partei, die dermaßen eindeutig abgewählt wurde wie die Sozialdemokraten, muss schnell und selbstkritisch reagieren. Das heißt: Sie muss Bereitschaft zu einem echten Neuanfang signalisieren. Inhaltlich und personell. Das ist am Dienstag gelungen. Aber nur halb.
Der Verzicht von Frank-Walter Steinmeier auf den Parteivorsitz ist eine Notbremsung. Hätte die SPD ausgerechnet ihren gescheiterten Spitzenkandidaten zum alleinigen Oppositionsführer ausgerufen, wäre dies einer Verhöhnung des Wählervotums gleichgekommen - und es hätte den weiteren Abstieg programmiert. Steinmeier war bis weit in das linke Lager hinein deutlich unbeliebter als die CDU-Kanzlerin - und sein Wahlergebnis war noch schlechter als die SPD-Umfragewerte, die der gemobbte Kurt Beck einst erreichte.
Es spricht also viel dafür, dass die SPD von vielen der verbliebenen Anhänger trotz und nicht wegen der Person Steinmeier gewählt wurde. Auch inhaltlich kann der geistige Vater der Agenda 2010 nicht den Neuanfang signalisieren, den die SPD jetzt braucht. Steinmeier war ein kühler, nüchterner Regierungspragmatiker ohne Redetalent. Gegen die Lautsprecher der anderen Oppositionsparteien wie Jürgen Trittin, Gregor Gysi oder Oskar Lafontaine wird er sich kaum durchsetzen können. Steinmeiers Wahl zum Fraktionschef ist eine Notlösung für eine kurze Übergangszeit.
Die SPD braucht für ihre Spitzenpositionen im Bundestag und in der Partei Leute, die weniger eng mit der Schröder-Vergangenheit verbunden sind. Die Neuen müssen eine künftige rot-rot-grüne Zusammenarbeit vorbereiten, ohne panisch zu versuchen, die Linkspartei links zu überholen. Er oder sie muss glaubwürdig gegen Merkel/Westerwelle und gegen Lafontaine/Gysi argumentieren können. Wie das geht, hat im Bundestagswahlkampf Sigmar Gabriel vorgemacht. Wie man mit der Linkspartei erfolgreich regieren kann, hat Klaus Wowereit vorgemacht. Der SPD-Neuanfang kann nur gelingen, wenn beide zusammenarbeiten. Das allerdings wäre ein echtes Wunder.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Analyse der US-Wahl
Illiberalismus zeigt sein autoritäres Gesicht
Biden hebt 37 Todesurteile auf
In Haftstrafen umgewandelt
Jahresrückblick Erderhitzung
Das Klima-Jahr in zehn Punkten