Kommentar Silvio Berlusconi: Freiheit für den Cavaliere
Das Mailänder Gericht verwandelt das Urteil gegen den früheren Staatschef Berlusconi in eine substanzielle Straflosigkeit.
D er Countdown läuft. Am Donnerstagnachmittag traten in Mailand die Richter zusammen, um darüber zu befinden, wie Silvio Berlusconi sein noch ausstehendes Jahr Haft wegen Steuerbetrug abbüßen soll – und in den nächsten Tagen werden sie ihre Entscheidung bekannt geben.
Man könnte meinen, die 20 Jahren währende Straffreiheit für Berlusconi habe damit jetzt ein Ende. Immer wieder konnte er in der Vergangenheit per Prozesseinstellung wegen Verjährung oder auch einfach per Änderung nicht genehmer Gesetze seinen Hals aus der Schlinge ziehen. Diesmal aber scheint der Strafantritt unvermeidlich.
Gitterstäbe aber wird Berlusconi nicht zu Gesicht bekommen. Die Richter werden zwischen Hausarrest und Sozialstunden wählen. Das im Vorfeld der Entscheidung vorgelegte Gutachten empfiehlt die denkbar schwächste Form der Strafe: einmal pro Woche müsste Berlusconi in einem Heim für behinderte Senioren zum Sozialeinsatz anrücken, voraussichtlich für neun Monate. Das war’s.
Doch Berlusconi erfüllt nicht einmal die elementarste Voraussetzung für die Möglichkeit, statt Haft Sozialstunden zu leisten. Explizit sieht das italienische Recht als Bedingung vor, dass der Schuldige Einsicht in sein Verbrechen zeigen muss. Davon kann bei einem Mann, der täglich gegen die Staatsanwälte hetzt, der sie als Putschisten und Rechtsbeuger verunglimpft, nun wirklich keine Rede sein.
Dennoch hat Berlusconi beste Chancen, in den Genuss dieser Regelung zu kommen. Und der Mann hat vor, das nach Kräften auszunutzen; er will sich voll im Europawahlkampf engagieren. Billiger kann er nicht davonkommen. Sollte das Mailänder Gericht für diese Lösung optieren, so wäre das Urteil erneut in sein Gegenteil verkehrt, wäre die Strafe in substanzielle Straflosigkeit verwandelt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin