Kommentar Sicherheitskonferenz: Europa muss anders stark sein
Die militärische Logik hat die Weltpolitik zurückerobert. Der Schutz der USA ist passé und so sucht Europa seine Kraft als eigener Akteur.
Aus dem einst „Wehrkundetagung“ genannten Zusammentreffen von Militärs, Außen- und Verteidigungspolitikern wurde nach dem Fall der Mauer erst die Münchner Konferenz für Sicherheitspolitik und schließlich, 2008, die Münchner Sicherheitskonferenz. Der Namenswechsel ist Programm, er entspricht der internationalen Entwicklung; Sicherheitspolitik ist inzwischen ja viel mehr als die Frage, wie viele Panzer einander gegenüberstehen. Die Abstimmung zwischen den Staaten – etwa beim Konflikt in der Ukraine, dem Kampf gegen den IS oder dem iranischen Atomprogramm – war das große Thema, die entscheidende Größenordnung. Nach diesem Wochenende kann man die Konferenz getrost wieder Wehrkundetagung nennen.
In München hat mit dem neuen Rüstungswettlauf die militärische Logik die Weltpolitik zurückerobert. Russland, im Möchtegern-Großmachtmodus, rüstet seit Jahren demonstrativ auf, die USA verabschieden sich mit der Kündigung des INF-Vertrages von der nuklearen Diät. China arbeitet ebenso emsig wie effizient an der eigenen, militärisch gestützten Dominanz und verweigert sich in München ganz offen dem von Bundeskanzlerin Angela Merkel vorgetragenen Wunsch nach einem neuen, erweiterten Nuklearwaffenvertrag. Unter Trump, Xi und Putin erlebt das Primat der Waffen eine ungeahnte Renaissance.
Die progressivste Option, die nun quer durch Europa diskutiert wird, läuft auf einen massiven Ausbau der europäischen militärischen Stärke hinaus. Sie ist ein Eingeständnis, dass die Nachkriegsweltordnung, in der Europa sich auf den Schutz der USA verlassen konnte, verflossen ist. Europa sucht seine Kraft als eigener, vierter Akteur in diesem Puzzle.
Keine These wurde in München stärker ventiliert. Überzeugend ist sie nicht. Im Ernstfall würde Europa – zumal eines, das so uneinig ist wie seit dem Fall der Mauer nicht mehr – militärisch kaum etwas gegen die großen Militär- und Nuklearmächte ausrichten können.
Europa darf nicht naiv sein, aber es muss seine Stärke auf anderen Feldern ausbauen. Ihre gemeinsame Rolle sollten die europäischen Staaten darin suchen, ein Politikmodell voranzubringen, das der binären Aufrüstungslogik entgeht. Eines, das lieber in Cyberabwehr und digitale Fähigkeiten investiert, das Entwicklungshilfe, die Investition in Schlüsseltechnologien sowie Bildungspolitik als ebenso starke Waffen betrachtet wie neue Panzer und Raketen. Eines, das Sicherheitspolitik so fasst, wie es mit der Umbenennung der Wehrkundetagung gemeint war.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels