Kommentar Rederecht für Parlamentarier: Gefahr droht von woanders
Die Aufregung über die neue Regelung des Rederechts der Parlamentarier ist völlig überzogen. Der Parlamentarismus ist derzeit von ganz anderer Seite gefährdet.
B ei der Debatte über das Rederecht für Parlamentarier scheint die Demokratie selbst auf dem Spiel zu stehen. Aufmüpfigen Abgeordneten sollen, so wird behauptet, „Maulkörbe“ verpasst werden. Die Volksvertreter werden von einem Machtkartell „kastriert“, sagt ein Kritiker.
Der CDU-Mann Klaus-Peter Willsch fürchtet, dass ihm bald „Publizierungsverbot und Hausarrest“ drohen. Offenbar befindet sich die Demokratie im Klammergriff einer autoritären Machtelite, die ihre Gegner unterdrückt. Das ist Unfug. Gefahren drohen der Demokratie, aber andere.
Tatsache ist, dass in der parlamentarischen Geschäftsordnung bisher nicht geregelt war, ob und wie lange Abgeordnete reden dürfen, die anders als ihre Fraktionen abstimmen. Bundestagspräsident Norbert Lammert hatte kürzlich, entgegen dem Gewohnheitsrecht, zwei Gegnern der Eurorettung aus CDU und FDP erlaubt zu sprechen.
ist Redakteur im Parlamentsbüro der taz.
Das war, bei einer so bedeutenden Frage, richtig. Für Aufregung sorgt nun eine Regelung, die es dem Bundestagspräsidenten erlaubt, solche Dissidenten künftig ausnahmsweise drei Minuten reden zu lassen. Im Grunde stärkt diese Regelung sogar das Rederecht von Abweichlern – aber das ist im Pulverdampf untergegangen.
Wer gelegentlich Bundestagsdebatten verfolgt, weiß, dass sie eher zu lang als zu kurz sind. Wäre es da klug, dissidente Auffassungen in den Fraktionen generell mit Rederecht zu belohnen? Das wäre es nicht. Es gibt schon jetzt zu viele Nachtsitzungen vor leerem Plenum und unbeachtet von der Öffentlichkeit. Einen funktionsfähigen Bundestag zu wollen ist kein Trick, um mutige Parlamentarier mundtot zu machen.
Der Parlamentarismus ist derzeit in der Tat gefährdet. Das Tempo, mit dem Euro- und Bankenrettungspakete durchgepeitscht werden, lässt für seriöse Willensbildung wenig Raum. Was die Demokratie schwindsüchtig erscheinen lässt, sind Sachzwanglogik, Zeitdruck und die Verlagerung von Entscheidungen in Sondergremien. Der Parlamentarismus ist in den Zeiten des Finanzkapitalismus von seiner eigenen Schwäche bedroht – nicht davon, dass Klaus-Peter Willsch sein Nein zur Eurorettung nur noch in drei statt in fünf Minuten darlegen darf.
Die Fraktionen haben die Entscheidung vertagt. Das wirkt ängstlich, ist aber angesichts des Höhenflugs der Piraten nicht überraschend. Wenn schon etablierte Politiker mit populistischen Sprüchen Vorurteile gegen das Parlament munitionieren, dann schwächt das die Demokratie. Der Bundestag braucht keine Geschäftsordnungsdebatten, sondern mehr Selbstbewusstsein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen