Kommentar Razzia gegen die Mafia: Machtfaktor mitten in der Gesellschaft

Die organisierte Kriminalität verbindet sich mit gesellschaftlichen Eliten. Ihr Ziel ist eine totalitäre Herrschaft. Das muss thematisiert werden.

Die Rolladen an einer Osteria sind verschlossen. Bei der großangelegten Razzia gegen die italienische Mafia hat die Polizei einen der mutmaßlichen Haupttäter in Nordrhein-Westfalen verhaftet

Auch hier in Pulheim in NRW waren die Ermittler im Rahmen der Razzia Foto: dpa

Kokain ist erst mal eine Droge wie jede andere auch; und in einer freien Gesellschaft sollte jede und jeder das Recht haben, sich das Hirn auf individuelle Art wegzublasen. Eigentlich. Das Problem am Kokain ist die enorme Gewinnspanne. Das Problem ist das Geld, das in den normalen – gewiss: kapitalistischen – Wirtschaftskreislauf eingespeist wird, in Form von Immobilien, von Firmen, von Spielhöllen. Geld das die jenigen, die diesen Kreislauf kontrollieren sollen, korrumpieren kann, die Vertreter des Rechtsstaates also.

Spricht man von Mafien, dann sind nicht in erster Linie die berüchtigten Großfamilien gemeint, die wie in Berlin die eine oder andere Goldmünze klauen. Gemeint sind Strukturen, in der sich organisierte Kriminelle mit technischen Eliten – Bankern, Anwälten, Architekten, Ärzten – sowie mit Politikern und Justizangehörigen in einer Grauzone zusammenfinden und eine totalitäre Herrschaft anstreben.

In Kalabrien, dem Ursprungsort der Mafiaorganisation 'Ndrangheta, gegen die europäische wie südamerikanische Behörden in der globalen, unter dem Codenamen „Pollino“ laufenden Polizeiaktion vorgegangen sind, hat eine rechtsstaatlich fragwürdige Anti-Mafia-Gesetzgebung und (Abhör-)Praxis an dieser Herrschaft bislang nur wenig ändern können.

Nach jüngsten Zahlen der zivilgesellschaftlichen Anti-Mafia-Organisation Libera zahlen in Kalabriens Metropole Reggio 90 Prozent der Wirtschaftsbetriebe Schutzgeld oder sehen sich gezwungen, Geld zu Wucherzinsen bei mafiösen Geldverleihern aufzunehmen. Anschläge auf Geschäfte bis hin zu Mordanschlägen gegen alle, die sich diesem Herrschaftsanspruch widersetzen, sind in Kalabrien an der Tagesordnung. Das ist erstmal ernüchternd. Vor allem, wenn man die großen persönlichen Opfer eines Lebens in ständiger Gefahr einberechnet, der sich mutige Bürger, Ermittler und nicht zuletzt Journalisten im Mafialand täglich ausgesetzt sehen.

Der entscheidende Punkt, vor allem in Hinsicht auf die aktuellen Festnahmen in Deutschland, ist aber ein anderer. Der erste offizielle Bericht über die 'Ndrangheta vom Anti-Mafia-Ausschuss des italienischen Parlaments stammt aus dem Jahr 2008, der Begriff 'Ndrangheta selbst taucht im italienischen Strafgesetzbuch erst 2010 auf. Heute kann in Italien niemand mehr die Existenz der Mafia verleugnen oder ihre Gefährlichkeit bestreiten, ohne zumindest auf deutlichen Gegenwind zu stoßen.

Es ist klar, wohin die Reise gehen muss: Über die Mafia muss auch in Deutschland kontinuierlich gesprochen werden und zwar nicht unter dem Stichwort „kriminelle Kreise“, sondern als Machtfaktor mitten in der Gesellschaft

Hatte sich in Deutschland nach dem Clan-Massaker von Duisburg 2007 kurz Aktivismus gezeigt, der aber letztlich unter dem Motto „solange-sie-sich-nur-gegenseitig-umbringen“ schnell wieder ad acta gelegt wurde, so kommen die Einschläge nun wieder näher und werden häufiger: Von den Festnahmen im Rahmen der Aktion gegen den Clan Farao-Marincola Anfang des Jahres bis hin zur Existenz einer Ndrangheta-Zelle in Erfurt und ihrer vielfältigen juristischen Aktivitäten, die eine kritische Berichterstattung über sie verhindern sollen.

Wenn bei der Pressekonferenz zur „Pollino“- Ermittlung bei der EU-Behörde Eurojust der oberste italienische Anti-Mafia-Staatsanwalt Cafiero de Raho die entscheidende Bedeutung eines mafiösen Bürgertums betonte, während der deutsche Kriminaldirektor Christian Hoppe die „Potenz“ der 'Ndrangheta daran festmachte, dass es „Durchstechereien“ während der seit August 2017 andauernden Ermittlungen gegeben habe, dann ist klar, wohin die Reise gehen muss: Über die Mafia muss auch in Deutschland kontinuierlich gesprochen werden und zwar nicht unter dem Stichwort „kriminelle Kreise“, sondern als Machtfaktor mitten in der Gesellschaft.

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Geboren 1968 in München, seit 2008 Redakteur der taz. Er arbeitet im Ressort taz2: Gesellschaft&Medien und schreibt insbesondere über Italien, Bayern, Antike, Organisierte Kriminalität und Schöne Literatur.

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