piwik no script img

Kommentar Proteste in der TürkeiHoffen auf eine echte Opposition

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Es musste erst der stellvertretende CHP-Parteichef verurteilt werden, bis die Partei sich aufraffte. Jetzt aber könnte sie tatsächlich etwas bewegen.

Die türkische Opposition unter Kemal Kilicdaroglu hat jetzt eine letzte echte Chance auf „adalet“, Gerechtigkeit Foto: reuters

E ndlich, muss man sagen, endlich, nach jahrelangem Zögern hat „der Gandhi“ der Türkei, Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu sich einen Ruck gegeben und begonnen zu handeln. Seit Donnerstag sitzt seine sozialdemokratisch-kemalistische CHP nicht mehr bequem im Sessel, sie protestiert jetzt auf der Straße.

Mit seinem „Marsch für Gerechtigkeit“ unternimmt Kılıçdaroğlu eine Anstrengung, auf die Hunderttausende Türken seit Jahren warten: nämlich eine echte Opposition zu leisten. Gemeinsam mit anderen Abgeordneten der CHP und Tausenden weiteren Parteimitgliedern und unabhängigen Oppositionellen hat er sich vergleichbare Aktionen des friedlichen Widerstands zum Vorbild genommen und begonnen, seinem Spitznamen „Gandhi“ Ehre zu machen.

Noch ist nicht entschieden, ob sich der Marsch von Ankara nach Istanbul auf den bevorstehenden 450 Kilometern nicht im wahrsten Sinne des Wortes verläuft, aber der Start weckt längst verloren geglaubte Hoffnungen.

Kılıçdaroğlu betont immer wieder, dass der Protestmarsch kein Parteimarsch ist, sondern Gerechtigkeit für alle fordert und deshalb auch für alle offen ist. Die Aktion ist für alle von der Regierung Erdoğan frustrierten und unterdrückten Türken anschlussfähig und hatte auch schon am ersten Tag Züge eines Volksmarsches. Zwar wird von vielen Linken kritisiert, dass Kılıçda­roğlu und seine CHP sich erst jetzt, als es einen der ihren getroffen hat, aufraffen. Wo wart ihr, als Selahattin Demirtaş und Hunderte Mandatsträger und Mitglieder der kurdisch-linken HDP ins Gefängnis geworfen wurden, fragen sie zu Recht.

Es dauerte, bis die CHP sich aufraffte. Doch besser spät als gar nicht

Es musste erst der stellvertretende CHP-Parteichef Enis Berberoğlu in einem offensichtlich gelenkten Prozess zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt werden, bis die Partei sich aufraffte, doch spät ist immer noch besser als gar nicht.

Der HDP-Ko-Chef Selahattin De­mir­taş hat bereits aus dem Gefängnis heraus signalisiert, dass er den Protestmarsch unterstützt, andere HDP-Politiker haben das bekräftigt. Der Marsch nach Istanbul ist nun noch einmal, vielleicht das letzte Mal, eine echte Chance, den Weg der Türkei in eine Präsidialdiktatur zu stoppen. Wenn alle, die bei dem Referendum über das Präsidialsystem Nein gesagt haben, nun mitmachen, wird der Marsch seine Wirkung nicht verfehlen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Lieber Gandhi, der Zug ist aber schon abgefahren. Der ist schon auf dem Weg nach Mekka und der Zugführer heisst Erdogan.

  • Zu befürchten ist, dass Kilicdaroglu wegen Aufrufs zu einer nicht angemeldeten Demonstration ebenfalls inhaftiert wird. Proteste in der Türkei sind mittlerweile höchst riskant. Demonstrationen werden meist nur genehmigt, wenn es sich um Massenaufmärsche von Erdogans Partei handelt.

  • Wer zu lange zusieht wie sich Probleme entwickeln, muß sich nicht wundern wenn er Probleme bekommt. Unser Anteil am Entstehen von Diktaturen, egal wie schön sich das nennt, ist belegt.