Kommentar Proteste gegen das „Ja“-Votum: Schlau von Erdogan
Die Proteste gegen mutmaßlichen Wahlbetrug müssen Erdogan nicht beunruhigen. Ohne politische Führung verläuft die Nein-Bewegung ins Leere.
A m dritten Abend in Folge gingen am Dienstag in mehreren Städten der Türkei Menschen auf die Straße, um gegen den mutmaßlichen Wahlbetrug bei der Volksabstimmung über das Präsidialsystem Recep Tayyip Erdogans zu protestieren. Es sind mutige Menschen, denn aus der Vergangenheit weiß man, dass Erdogan durchaus in der Lage ist, Demonstrationen auch gewaltsam auflösen zu lassen, selbst wenn dabei Demonstranten getötet werden.
Noch hält sich die Polizei aber weitgehend zurück. Am Dienstagabend konnten die Menschen im Istanbuler Stadtteil Besiktas friedlich demonstrieren, ohne dass sich die gefürchtete Bereitschaftspolizei blicken ließ. Es ist schlau von Erdogan, dass er die Leute im Moment einfach laufen lässt, denn wie es aussieht, drohen die Proteste damit langsam ins Leere zu laufen.
Zwar herrschte in Besiktas auch am Dienstagabend gute Stimmung, doch man kann nicht behaupten, dass sich die Zahl der Demonstranten erkennbar erhöht hätte. Und die zwei bis dreitausend Menschen, die in Besiktas oder Kadiköy, in Ankara und Izmir jeweils auf die Straße gehen, sind für Erdogan keine echte Gefahr. Er kann sie ignorieren. Noch ein paar Tage, dann werden diese kleinen Manifestationen des Widerstands wohl im Sande verlaufen.
Das liegt daran, dass die beiden großen Oppositionsparteien, die sozialdemokratische CHP und die kurdisch-linke HDP die Demonstranten weitgehend allein lassen. Sie beschränken sich bislang darauf, vorhersehbar wirkungslose Einsprüche bei der Wahlkommission einzulegen. Die HDP hat das Problem, dass ihre Führung bereits seit Oktober letzten Jahres im Gefängnis sitzt. Dabei wäre jetzt ein Mann wie Selahattin Demirtas, der Co-Vorsitzende der HDP, der mit seinem Charisma wirkliche Massen auf die Straße bringen könnte, die einzige Chance, aus dem vereinzelten Widerstand eine echte Bewegung zu machen.
Protest in der Türkei
Die Nein-Bewegung bräuchte jetzt eine politische Führung. Doch die CHP war seit Erdogans Amtsantritt 2003 dazu nie in der Lage, und der sympathische aber im wahrsten Sinne des Wortes harmlose CHP Chef Kemal Kilicdaroglu wird auch jetzt nicht zum Volkstribun werden. Wie es aussieht, gibt es keinen wirklichen Grund für Erdogan, beunruhigt zu sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Bundestagswahl 2025
Parteien sichern sich fairen Wahlkampf zu