piwik no script img

Kommentar Proteste gegen das „Ja“-VotumSchlau von Erdogan

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Die Proteste gegen mutmaßlichen Wahlbetrug müssen Erdogan nicht beunruhigen. Ohne politische Führung verläuft die Nein-Bewegung ins Leere.

Er wartet ab: Erdogan Foto: reuters

A m dritten Abend in Folge gingen am Dienstag in mehreren Städten der Türkei Menschen auf die Straße, um gegen den mutmaßlichen Wahlbetrug bei der Volksabstimmung über das Präsidialsystem Recep Tayyip Erdogans zu protestieren. Es sind mutige Menschen, denn aus der Vergangenheit weiß man, dass Erdogan durchaus in der Lage ist, Demonstrationen auch gewaltsam auflösen zu lassen, selbst wenn dabei Demonstranten getötet werden.

Noch hält sich die Polizei aber weitgehend zurück. Am Dienstagabend konnten die Menschen im Istanbuler Stadtteil Besiktas friedlich demonstrieren, ohne dass sich die gefürchtete Bereitschaftspolizei blicken ließ. Es ist schlau von Erdogan, dass er die Leute im Moment einfach laufen lässt, denn wie es aussieht, drohen die Proteste damit langsam ins Leere zu laufen.

Zwar herrschte in Besiktas auch am Dienstagabend gute Stimmung, doch man kann nicht behaupten, dass sich die Zahl der Demonstranten erkennbar erhöht hätte. Und die zwei bis dreitausend Menschen, die in Besiktas oder Kadiköy, in Ankara und Izmir jeweils auf die Straße gehen, sind für Erdogan keine echte Gefahr. Er kann sie ignorieren. Noch ein paar Tage, dann werden diese kleinen Manifestationen des Widerstands wohl im Sande verlaufen.

Das liegt daran, dass die beiden großen Oppositionsparteien, die sozialdemokratische CHP und die kurdisch-linke HDP die Demonstranten weitgehend allein lassen. Sie beschränken sich bislang darauf, vorhersehbar wirkungslose Einsprüche bei der Wahlkommission einzulegen. Die HDP hat das Problem, dass ihre Führung bereits seit Oktober letzten Jahres im Gefängnis sitzt. Dabei wäre jetzt ein Mann wie Selahattin Demirtas, der Co-Vorsitzende der HDP, der mit seinem Charisma wirkliche Massen auf die Straße bringen könnte, die einzige Chance, aus dem vereinzelten Widerstand eine echte Bewegung zu machen.

Die Nein-Bewegung bräuchte jetzt eine politische Führung. Doch die CHP war seit Erdogans Amtsantritt 2003 dazu nie in der Lage, und der sympathische aber im wahrsten Sinne des Wortes harmlose CHP Chef Kemal Kilicdaroglu wird auch jetzt nicht zum Volkstribun werden. Wie es aussieht, gibt es keinen wirklichen Grund für Erdogan, beunruhigt zu sein.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
Mehr zum Thema

3 Kommentare

 / 
  • Mut und Dummheit wachsen oft am selben Baum.

     

    Nein, es liegt nicht an Präsident Erdogan, wenn sich die „kleinen Manifestationen des Widerstands“, die nach dem Referendum zu erleben sind, wohl in ein paar Tagen „im Sande verlaufen“ werden. Es ist weder seine Schuld, noch ist es sein Verdienst. Der Mann ist nicht „schlau“. Er riskiert bloß nichts, was er nicht unbedingt riskieren muss.

     

    Dass er nicht mehr riskieren muss als das, was er derzeit riskiert, haben (auch) die CHP und die HDP zu verantworten. Deren Führer sitzen nämlich nicht schon immer im Gefängnis. Bevor sie verhaftet wurden, waren sie frei. Damals aber haben sie offenbar keine Veranlassung gesehen, für eine Zukunft vorzusorgen, in der sie selbst womöglich mal nicht führen können werden.

     

    Die Opposition in der Türkei ist nicht vorbereitet worden aufs Alleinsein. Weder von ihren eigenen Führern, noch vom „Westen“. Es ist kein Wunder, dass sie nicht selbst denken oder handeln kann. Ihre Führer waren niemals Demokraten. Es waren immer Männer mit einem Patriarchen-Anspruch, Charisma hin oder her.

     

    Was der „Nein-Bewegung“ derzeit fehlt, ist nicht „eine politische Führung“. Was ihr fehlt, ist Selbstvertrauen und Erfahrung mit der Eigenständigkeit. Was ihr aber vor allem fehlt, ist die Überzeugung, dass es sich lohnt, seinen Wohlstand, seine Sicherheit und notfalls auch sein Leben zu riskieren für die Autonomie.

     

    Nein, Erdogan braucht die Konsequenzen seines Handelns derzeit nicht zu ignorieren. Es hat nämlich keine. Ob irgendwer, der sich für charismatisch hält, ein paar tausend Leute auf die Straße bringt an einem Einzeltag, kann Erdogan egal sein. Man kann schließlich nicht ewig demonstrieren. Es gibt ein Leben abseits aller Straßen. Und dieses Leben hat (nicht nur) die Türken bestens vorbereitet auf eine Existenz im Schatten eines Sultans wie Präsidentn Erdogan. Kein Wunder also, dass sie mit ihm leben können.

    • @mowgli:

      "...keine Veranlassung gesehen, für eine Zukunft vorzusorgen, in der sie selbst womöglich mal nicht führen können werden."

       

      Ist das nicht überall so? Klassisch nennt man das "nicht über den eigenen Tellerrand schauen können" - oder wollen. Es sind tatsächlich die Allerwenigsten, die über diesen Voraus- und Weitblick verfügen. Bisher habe ich das, wenn auch nur in personellen kleinen Ansätzen, ausgerechnet bei Putin festgestellt. Jeder einmal Gewählte hält sich für ewig und unverzichtbar nach dem Motto "nach mir die Sintflut". Warum sollte das in der türkischen Politik anders sein? Erdogan gelingt es mehr und mehr, seine Großfamilie in die Macht einzuschleusen und damit auch seine Zukunft abzusichern. Dies ist der Opposition dort natürlich nicht möglich. Weshalb kritisieren sie, dass unter deren Anhängern solche Kräfte so rar sind? In Syrien bspw. gab es in der Opposition mehrere starke Anführer, die jedoch einer nach dem anderen vom Regime ausgeschaltet wurden. Erdogan war durchaus lernfähig.

       

      Bei uns wird abfällig über Personenwahlen gesprochen, um unser Parteien-Wahlsystem positiv darzustellen und es wird ignoriert, dass sämtliche Wahlentscheidungen sich auf Versprechen und Aussagen von Personen stützen, also dennoch die Parteien unsinnigerweise über Personen gewählt werden. Dennoch ist das Eingebundensein in eine Partei noch immer ein gutes Korrektiv, um wenigstens derartigen Auswüchsen in Grenzen entgegen zu wirken, wie sie derzeit in der Türkei zu beobachten sind. Denn richtig ungehemmt agieren wird Erdogan erst nach 2019 können, wenn er die letzten Fesseln abgestreift hat.

  • Die Stimmung ist durch den mulimische Fundamentalismus durch Erdogan so aufgeheizt, das auf Jahre keine Moderniesierung erfolgen wird. Eher Krieg und Unruhen. Deutschland wird sich auf einen extremeren Teil der deutschen Türken einstellen müssen.