Kommentar Präsidentenwahl Kroatien: Feinsinn und Anstand ziehen nicht
Die Krise hat viele Unzufriedene dazu veranlasst, Kolinda Grabar-Kitarovic zu wählen. Dabei hat die Konservative keine konstruktiven Ideen.
D ie 46-jährige Kolinda Grabar-Kitarovic war vor den Wahlen keineswegs populär, sie hat einen umständlichen Namen, war in Kroatien trotz ihrer zeitweiligen Tätigkeit als Außenministerin und Diplomatin bei der Nato kaum bekannt und steht für eine durch Korruptionsskandale geschüttelte erzkonservative Partei – die Kroatisch Demokratische Gemeinschaft HDZ. Außer durch haltlose Versprechungen, das Land in kurzer Zeit in den Wohlstand zu führen, ist sie im Wahlkampf keineswegs durch konstruktive Vorschläge zur Lösung der kroatischen Krise aufgefallen. Und dennoch hat sie bei einer für Kroatien hohen Wahlbeteiligung knapp gewonnen.
Der bisherige Präsident Ivo Josipovic dagegen war vor seiner Präsidentschaft Mitglied der Sozialdemokraten SDP, ist ein feinsinniger Intellektueller, Musiker und Komponist, zudem ein seit langem hoch angesehener Jurist und überzeugter Europäer. Josipovic ist der Repräsentant des progressiven, kulturellen, bürgerlichen Zagreb. Seine im Wahlkampf gegen das sozialdemokratische Parteiestablishment gerichteten Vorschläge für Volksabstimmungen über notwendige Reformprojekte waren vernünftig und zeigten einen Ausweg aus der ökonomischen Misere.
Bürgerlichkeit und Anstand, Intellektualität und komplizierte Gedankenspiele reichten nicht zum Sieg. Der seit Jahren anhaltende wirtschaftliche Abwärtstrend hat 20 Prozent der Menschen in die Arbeitslosigkeit getrieben, 50 Prozent der Jugendlichen haben keine Chance für einen Job, der kalte Neo-Kapitalismus verschlechterte Arbeitsbedingungen und Löhne. Viele kleine Leute, Arbeiter und Angestellte, die Katholische Kirche und die nationalistisch gesinnten Dörfler aus Dalmatien und Slawonien sowie die Auslandskroaten gelten zwar ohnehin als Wählerbasis für Kalinda Grabar-Kitarovic, diesmal stimmten jedoch offenbar auch viele Unzufriedene aus anderen Lagern für die vermeintliche Alternative.
Den Ausschlag dürften die 16 Prozent junge Leute gegeben haben, die im ersten Wahlgang für den 24-jährigen Sozialrevolutionär Ivan Vilibor Sincic waren. Feinsinnige bürgerliche Intellektuelle aus dem Establishment können große Teile dieser Jugend nicht mehr begeistern. Es ist aber durchaus möglich, dass bei den diesjährigen Parlamentswahlen die Karten neu gemischt werden.
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