Kommentar NSU-Prozess und Aufklärung: Deutschland hat ein Problem
Die Urteile im NSU-Prozess sind zwar gesprochen. Von einer umfassenden Erkenntnis über die Hintergründe des Terrors sind wir trotzdem weit entfernt.
D ie Urteile im NSU-Prozess sind gefallen. Deutschland hat aber immer noch ein Problem: den „NSU-Komplex“. Und was macht Deutschland? Es verschiebt, verleugnet, rationalisiert.
„Komplex“ ist kein zufällig gewähltes Wort. Es will die Ursachen institutioneller, struktureller und personeller Natur fassen, will die Haltung einer Gesellschaft benennen, die den Neonaziterror möglich gemacht hat. Vom „NSU-Komplex“ sprechen Kritiker des offiziellen Aufklärungsprozesses, der all das nicht fassen will. Jene Kritiker, die glauben: Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe handelten nicht in einem Vakuum, und es waren auch nicht nur die vier weiteren Helfer involviert, die jetzt zusammen mit Zschäpe verurteilt wurden.
Der deutsche Staat und seine Justiz wollen das aber nicht wahrhaben. Dabei hatte die Bundeskanzlerin 2012 gesagt: „Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.“ Dieses Versprechen hat sie stellvertretend für den deutschen Staat gebrochen.
Ein Teil der Öffentlichkeit kritisierte von Anfang an eine fehlende Bereitschaft, umfassend aufzuklären. Aber auch eine aufmerksame Öffentlichkeit ermüdet, sie gewöhnt sich an die verweigerte Aufklärung. Auch ohne Gerechtigkeit geht das Leben weiter. Auch ein NSU-Prozess endet einmal. Irgendwann verkommt die Ungerechtigkeit zur leidenschaftslos vorgetragenen Randnotiz.
Würde Deutschland eine Psychoanalyse machen, würden ihm drei Abwehrmechanismen attestiert werden: Verschiebung, weil es seine Verantwortung für den Neonaziterror auf wenige Personen verschiebt. Verdrängung, weil Deutschland – eigentlich Gedenkweltmeister – die Gefühle, die aus dieser Schuld erwachsen, nicht ertragen kann. Rationalisierung, weil es sich den NSU auf diese Weise trotzdem erklären kann.
Die Urteile sind gefallen. Und wir sind immer noch weit entfernt von einer umfassenden Erkenntnis über die Hintergründe des NSU-Terrors. Dafür gewinnen wir eine andere Erkenntnis: Auf das offizielle „Nie Wieder“ der Bundesrepublik ist kein Verlass. Um so wichtiger ist der zivilgesellschaftliche Antifaschismus. Auch nach dem Urteil werden diejenigen weiterhin Fragen stellen, die es mit dem Kampf gegen Neonazis ernst meinen.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!