Kommentar NS-Geschichte im Kanzleramt: Schaltstelle des Schweigens
Etliche Ministerien und Behörden haben inzwischen ihre NS-Kontinuitäten aufgearbeitet. Dass sich das Kanzleramt weigert, ist grotesk.
W as treibt eigentlich das Bundeskanzleramt, dass es immer noch nicht bereit ist, seine eigene Geschichte angemessen aufarbeiten zu lassen?
Vor der Jahrtausendwende fiel die Antwort nicht schwer. Damals lebten schlichtweg noch allzu viele NS-belastete Interessenten des Vergessens. Deren Leumund zu schützen, hatten sich die Bundesregierungen von Adenauer bis Kohl verpflichtet gesehen. Das „kommunikative Beschweigen“ der Gründerjahre wirkte auch in den folgenden Jahrzehnten nach und prägte die politische Kultur in der Bundesrepublik tief.
Es war leicht, den Nationalsozialismus scharf zu verurteilen, solange nur der Kreis der Verantwortlichen eng genug gezogen wurde. So ließen sich unangenehme Fragen nach problematischen Personenkonstellationen, Kontinuitätslinien und aus der NS-Zeit fortwirkenden Mentalitäten ausblenden – oder, wie im Fall von Adenauers Kanzleramtschefs Globke, als „DDR-Propaganda“ abtun.
Aber das war früher. Mit dem Ableben der Erlebnisgeneration haben sich die alten Loyalitätszusammenhänge weitgehend aufgelöst. Es hat zwar allzu lange gedauert, bis sich die bundesdeutschen Institutionen mit ihren braunen Flecken auseinandersetzten. Doch inzwischen hat sich viel getan. Siebzehn Ministerien und oberste Bundesbehörden haben in den vergangenen Jahren Historikerkommissionen eingesetzt.
Nur das Bundeskanzleramt weigert sich hartnäckig – obwohl es die für die Personalpolitik der Bundesregierung zentrale Schaltstelle war und ist. Es wäre endlich an der Zeit, diese gravierende Forschungslücke zu schließen. Wenn Kulturstaatsministerin Monika Grütters – gegen das einhellige Votum der Sachverständigen in der Bundestagsanhörung vom Juni – trotzdem nur ein „ressortübergreifendes Forschungsprogramm“ auflegen will, ist das geradezu grotesk. Der Verdacht liegt nahe, dass hier weiter verschleiert werden soll.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau