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Kommentar Hartz-IV und FDPSozialpopulismus der Mitte

Matthias Lohre
Kommentar von Matthias Lohre

Die Ressentiments, die die FDP aktuell schürt, sind gefährlich. Wie dieser Angriff auf die bundesdeutsche Konsensdemokratie ausgehen wird, ist ungewiss.

G uido Westerwelles Attacken gegen angebliche Sozialschmarotzer werden immer spitzfindiger. Je länger der FDP-Chef agitiert, desto mehr wird offenbar: Dies ist mehr als eine Taktik, um eine drohende Niederlage bei der NRW-Wahl abzuwenden. Westerwelle will etwas Neues in der bundesdeutschen Politik etablieren: einen Sozialpopulismus der Mitte.

Dieser setzt darauf, sich als Vertreter einer schweigenden Bevölkerungsmehrheit zu inszenieren. In dieser Rolle geht es darum, bekannte Missstände zu Tabus zu stilisieren, die man dann heroischerweise bricht. Gerade die Unbestimmtheit der Vorwürfe macht sie wirksam, weil sie sich so als Projektionsfläche tief sitzender Ressentiments nutzen lassen. Ähnliches tut die CSU seit Jahrzehnten, und die Linke verdankt nicht zuletzt solchem Populismus ihren Wahlerfolg. Doch dass sich eine Regierungspartei derartig heftig als Opposition aufspielt, ist neu.

Erstmals schürt eine Regierungspartei derart offen tief sitzende Ressentiments gegen eine angeblich homogene Gruppe, in diesem Fall Hartz-IV-Empfänger und ihre Familien - ohne Rücksicht auf die Fakten. Westerwelle verschweigt, dass es die geforderte Möglichkeit, Hartz-Leistungen zu kürzen, längst gibt. Seine Worte bedienen gezielt Sehnsüchte nach Bestrafung, die sich nicht scheren um Gesetze und Verordnungen. Sie sind dumpfer - und dadurch umso gefährlicher.

Bild: taz

Matthias Lohre ist Redakteur im Parlamentsbüro der taz.

Ähnlichen "Extremismus der Mitte", wie der Politologe Franz Walter dieses Phänomen nennt, gibt es in der Schweiz: die SVP mit ihrem Vordenker Christoph Blocher und ihren Kampagnen gegen ausländische "schwarze Schafe" und Muslime.

Wie dieser Angriff auf die bundesdeutsche Konsensdemokratie ausgehen wird, ist ungewiss. Eine Niederlage der Freidemokraten in NRW könnte zu einer weiteren Verschärfung ihrer Kampagne führen. Den Schaden hätten die Bedürftigen sowie die politische Kultur insgesamt.

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Matthias Lohre
Schriftsteller & Buchautor
Schriftsteller, Buchautor & Journalist. Von 2005 bis 2014 war er Politik-Redakteur und Kolumnist der taz. Sein autobiographisches Sachbuch "Das Erbe der Kriegsenkel" wurde zum Bestseller. Auch der Nachfolger "Das Opfer ist der neue Held" behandelt die Folgen unverstandener Traumata. Lohres Romandebüt "Der kühnste Plan seit Menschengedenken" wird von der Kritik gefeiert.
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8 Kommentare

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  • B
    Bärbel

    Natürlich wird jetzt von Herrn Westerwelle am "äußersten Rande der Mitte" nach Stimmen gefischt, denn das sind die klassischen Bild-Zeitungsleser und RTL-Schauer, die es nicht gewohnt sind, zu hinterfragen, sondern großen Buchstaben in Form von Schlagzeilen und bunten Bildchen glauben. Endlich ist einer da, der den "wahren Grund" der latenten Unzufriedenheit der ferngesteuerten Allgemeinheit gefunden hat und zur Zielscheibe allen Unmutes und Verbalattacken macht. Klar, der Hartzi ist schuld, dass es mir schlecht geht. Schon schiebe ich alle Verantwortung von mir.

     

    Würde Herr Westerwelle einen Hotelier ebenso angreifen? Nein, denn dieser gehört ja zu seiner Klientel, von einem "Hartzi" erwartet er ja keine Stimmen. Und wie sagte Herr W neulich? Er sei Außenminister, also habe er sich nur im Ausland diplomatisch zu geben. Im Inland sage er was er denke. Klar, nach außen hin den Schein bewahren, das gute soziale Deutschland, doch im Hintergrund wetzt er die Messer ...

     

    Schön, dass wir nun Dampf abgelassen haben. Und nun?

  • KD
    Karl der Große

    Deutschland hat mal wieder eine Art "geistigen Brandstifter"

    Wie schon einmal vertritt er seine Hanebüchenden Thesen mit dem Vorwand das Volk zu vertreten.

     

    ( HartzIV-Empfänger gehören aber nunmal auch dazu und haben alle Bürger und Menschenrechte..:- o wunder , sogar das Grundgesetz gehört dazu !)

     

    Es gab ja schonmal die Idee.., das die H4ler..einen H-Stern tragen sollen, damit jedeR ihn auf der Straße erkennt und bepöbeln darf ( Die Idee kam von einem Kabaratisten)

     

    Natürlich muß diese Gruppe vorher noch ordentlich stigmatisiert werden, wofür Westerwelle schon ganze Arbeit leistet.

    ..- damit das "gemeine" Volk auch drauf reinfällt.

    Scheinbar sind viele offen für "geistigen Durchfall".

     

     

    Der Fisch stinkt vom Kopf her !

     

    Wo sind denn die wirtschaftspolitischen Konzepte der FDP?

     

    Wo ist denn die Freiheit, wo sind die Bürgerrechte?.. Wo die Gerechtigkeit?

     

    Wo ein vernünftiges Miteinander?

     

    Die Regierung hätte die Aufgabe, hierfür WErbung zu machen und Konzepte vorzulegen.

     

    Aber dafür reicht es leider nicht ...

     

    Ich denke.., das Gesellschaftsbild der FDP kommt noch aus dem vorletzten Jahrhundert. Die Einwanderer können mal wieder Schuhe putzen.. und in Ghettos wohnen...natürlich ohne Rechte, denn Sie müssen ja dankbar sein, überhaupt ein STück von der Wurst zu bekommen.

     

    Der Mann soll endlich Probleme lösen und nicht noch zusätzliche (z.T. erfundene ) aus der Taufe heben..-

     

    ..und dabei nicht auch noch Grundgesetz aushebeln.

     

    Er lenkt davon ab, das er unfähig ist das Land voranzubringen.

     

     

    Weil er das scheinbar selbst schon eingesehen hat..

    braucht er jetzt Sündenböcke !

     

    Wieso hilft er den Leuten nicht einen vernünftigen Job mit MEHR Netto zu finden..

     

     

     

    ( Achja,.. mehr Netto heißt mitunter ach:

    weniger Rente, weniger Gesundheitsvorsorge, weniger Sicherheit, mehr Angst, mehr Arbeitsdruck uswusf.)

     

    Für schlichte Denker,, mag die Gesellschaftskritik eines Herrn W. ausreichen.

     

    Wer tiefer in die Materie einsteigt., wird schnell feststellen können., das wir viele Baustellen haben..

    H4ler sind oft auch Opfer.. und wo sind denn die Anreize für die Zuverdienste..-

    man läßt die Leute einfach verarmen und wundert sich dann !!!

     

    Also, für alle die es nicht glauben: Geht denken !

     

    Ich hoffe, das Herr W. mit seinem Dumpfsinn noch einige Anzeigen bekommt und vor einem Richter.. für seine gefährlichen Themen.. bestraft wird!

     

    Ich frage mich auch, ob es nicht am Ende selbst Opfer seiner Dumpfbackenreden ist.

     

    Wer sich mit einem Schlag bis zu 10.000.000 Millionen Menschen zum Feinde macht.., dem kann ich wirklich keine besondere Fähigkeit zur Weitsicht und Diplomation bescheinigen.

  • E
    :)ens

    @ taz-leser (irgendwie überflüssige Namensgebung, oder?):

    Ziemlich genau so sinnlos populistisch wie Ihre Form der Argumentation und Verkehrung und Verquerung von Fakten ist das, wovon der Autor spricht – nur eben in Bezug auf die von Ihnen sinnvollerweise bevorzugten Partei, der FDP!

     

    Denn:

    • von „Recht haben“ war nicht die Rede. Wahrscheinlich, weil es auch nicht gemeint ist. – Das ist schwierig zu verstehen, weil es doch ums Recht haben geht, gell? Tja, klingt komisch, ist aber so!

    • dass durch das Vertreten von Interessen irgendwas gefährdet wird, wurde auch nicht geschrieben. Ist m.E. auch totaler Schwachsinn…

    • Interessante Einstellung zur Wahrheit haben Sie, finde ich – denn sie scheint nur gut, Nährboden für so durchgeknallte Feststellungen (in echt: Interpretationen) zu bieten. Tipp: Beziehen Sie sich doch, wenn Sie meinen, eine vertretungswürdige Position zu beziehen, einfach auf das wirklich Geschriebene…

    • dass Transferempfänger „sozialistische Blütenträume“ haben, ist genau so lachhaft an den Haaren herbei gezogen, wie es jeglichen Bezug zum Artikel vermissen lässt.

     

    Ich weiß, es ist nicht einfach, sich in so komplexe Themen echt reinzudenken. Andere Positionen ernsthaft nachvollziehen zu wollen. – Selbst wenn das die einzige Möglichkeit ist, sich konstruktiv zu beteiligen…

    Aber ich glaube auch, dass eine Einstellung und die Art, diese auszudrücken, wie die Ihre, sehr schädlich ist für so ziemlich alles, was ich für gut halte – und in echt auch Sie für gut halten; Gutes, Faires, Sinnvolles, Menschliches.

     

    Stellt sich mir die Frage:

    Wofür sind Ihre Gedanken und Ihre fies-klingenden Worte eigentlich gut?

     

    Übrigens, Ihnen:

    Alles Gute!

  • E
    :)ens

    @Autor: Schönen Dank für die Formulierung einiger meiner Gedanken zur momentanen FDP-Agitation!

     

    +@Graf: Denke ich auch – die darf mit so einer Programmatik (übrigens: ohne tatsächliche eigene Inhalte!) nicht auch noch Stimmen dazu gewinnen. Sonst ist sie durchaus berechtigt bestärkt in diesem Kurs! Für so ein dumm-dreiste Daherrederei muss eine Partei abgestraft werden, sonst kann sie quasi gar nicht zu etwas Vernünftigem zurück finden…

     

     

    OT – @taz: Am Mac ist es mir unter Safari nicht möglich, hier zu kommentieren. Dafür muss ich extra Firefox starten. Ist das wirklich nötig?

  • JM
    John McMalcom

    Nichts ist für einen Sozialstaat trauriger, als wenn seine gewählten Vetreter gegen ihn vorgehen. Und alles nur für das unbedingte Überleben einer Marktwirtschaft, die schon lange nicht mehr sozial ist.

     

    Da kann man nur hoffen, dass aus den paar möglichen Prozentpunkten für die FDP in NRW nicht schon wieder ein Regierungsauftrag abgeleitet wird...

     

    Guten Tag.

  • NG
    nach gedacht

    Nanu - noch kein einziger Kommentar? Also: was Westerwelle da macht ist geistige Brandstiftung der übelsten Sortem weil:

    er sagt nicht, welche Arbeitsplätze die 6,6 Mill. HartzV BezieherInnen plus die geschätzen 4 Mill. ALGI BezieherInnen denn annehmen sollen, im Portal des Arbeitsamtes sind nur etwa 500000 freie Arbeitsplätze zu finden, davon eine große Menge bei den Billiglöhnern und Sklavenbuden, auch Zeitarbeitsfirmen genannt.Auch die Zeitungen geben am Wochenende außer Zeitarbeitsstellen nicht mehr viel her und dann passiert es schon mal, daß auf eine eher schlecht bezahlte Bürokauffrauenstelle bis zu 2000 Bewerbungen eintreffen. Offensichtlich hat sich Westerwelle noch nie im realen Leben aufgehalten.

    2. der eigentliche Skandal ist ja nicht, das der eine oder der andere *zu Unrecht* HartzV bezieht, sondern das mehr und mehr perkäre Arbeitsplätze angeboten und besetzt werden, die nicht einmal das Existenzminimum -und nichts mehr oder weniger ist HartzV - sichern. Wenn die Firmen wirklich so schlecht dastehen, um keine existenssichernden Gehälter/ Löhne zahlen zu können, warum steuert Westerwelle dann nicht um und läßt die Firmen Anträge stellen um Wirtschaftsbeihilfen zu bekommen, aber dann bitteschön mit Beibringung und Darlegung aller Fakten des Unternehmens, warum müssen die prekär Beschäftigten dieses tun? Wobei ich ganz sicher bin, das ein erheblicher Anteil im unteren Lohnsegment NICHT zur Arge geht um aufzustocken, einfach um das entwürdigende Entblößungsverfahren zu vermeiden. Die Ausweitung des prekären Arbeitspaltzsektors darf nicht weiter voran schreiten, in den meisten Fällen sind auch die sogenannten 1-Euro-Jobe Vernichter regulärer Arbeitsplätze.Alles auszuführen sprengt hier den Rahmen, aber um etwas zu verbessern in der BRD, muss die Politik SOFORT aufhören, Neid und Unfrieden untereinander zu schüren. Eine ehrliche Debatte hingegen, wie den Problemen des Arbeitsmarktes des 21. Jahrhunderts zu begegnen ist, ist zu begrüßen. Ich hätte da auch schon ein paar Ideen...

  • TL
    taz Leser

    Ach so ist das also. Die Bürger, die in diesem Land das Sozialssystem von ihrer Arbeit erwirtschaften, haben also nicht das Recht, ihre Interessen zu vertreten, weil dadurch der Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet wird. Interessante Einstellung zur Demokratie.

     

    Ich würde mir ein deutliches Signal der Leistungsträger dieses Landes wünschen, etwa in Form eines Generalstreiks, damit die sozialistischen Blütenträume der Transferempfänger endgültig zerplatzen.

  • GZ
    Graf Zahl

    Ich glaube im Gegenteil, dass ein Erfolg der FDP bei der Wahl in NRW zu einer Verschärfung ihrer Kampagne führen könnte. Wenn, wie zuletzt bei Roland Kochs Landtagswahlkampf 2008, Populismus bei Wahlen scheitert, wird er sich nicht durchsetzen - andernfalls schon eher.