Kommentar Griechische Austeritätspolitik: Macht der Gewohnheit
Noch ein Sparpaket in Griechenland? Das empört kaum noch jemanden. Dabei wäre ein Aufschrei jetzt wichtiger denn je.
D en wilden Gram macht die Gewohnheit zahm“ schreibt William Shakespeare. Will meinen: Wenn ein Missstand nur lange genug besteht, regt man sich nicht mehr darüber auf. Und so ist es auch in Sachen Griechenland: Der wilde Gram der Austeritätsgegner ist inzwischen zahmer Gleichgültigkeit gewichen.
Fast beiläufig meldeten viele deutsche Medien Anfang der Woche eine Einigung zwischen Griechenland und seinen Geldgebern – obwohl die Einschränkungen, denen Athen zugestimmt hat, drastisch sind. Um bis zu 18 Prozent sollen die Renten ab 2019 sinken, der Steuerfreibetrag für Geringverdiener soll 2020 abgesenkt werden.
Kommentiert wurde das in der deutschen Presse kaum, öffentlicher Protest gegen die harten Einschnitte gab es ebenfalls nicht. Denn die Abfolge aus kleinteiligen Schuldenverhandlungen, Kompromissen und Sozialkürzungen ist seit Jahren zu sehr gewohnt, um sich über jede Einzelmaßnahme noch aufzuregen. Und so sind sie verstummt, die gezähmten Austeritätskritiker.
Dabei wäre ein Aufschrei gegen das europäische Schuldenregime jetzt wichtiger denn je. Denn Griechenland leidet. Seit Beginn der Haushaltskrise 2009 bis Ende 2015 ist die Selbstmordrate laut einer aktuellen Studie des Imperial College in London jedes Jahr um 7,8 Prozent gestiegen. Im selben Zeitraum ist die Geburtenrate jährlich um 3,9 Prozent gesunken. Die Kindersterblichkeit nahm im Gesamtzeitraum um 26 Prozent zu.
Grund für diese Entwicklungen dürften mittelbar und unmittelbar die Finanzkrise und die darauf folgenden Sparmaßnahmen sein. „Wir verhungern hier“, hört man die Menschen auf den Straßen von Thessaloniki klagen. Auch davon liest man in Deutschland selten.
Kein Ende in Sicht
Während griechische Rentner und Geringverdiener nun abermals Kürzungen hinnehmen müssen, werden unter der Aufsicht der Gläubiger profitable Staatsunternehmen zum Schleuderpreis an Investoren verpachtet.
Ein Ende der Misere ist nicht in Sicht. Griechenland ist auf Jahrzehnte verschuldet, selbst der Internationale Währungsfonds zweifelt an der Schuldentragfähigkeit des Landes. Mit jeder neuen Sparmaßnahme wird Griechenland weiter auf den Stand eines Entwicklungslands zurückgeworfen. Das sollte eigentlich Schlagzeilen wert sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?