Kommentar Gregor Gysi: Rhetorik des Verdachts

Die Stasi-Vorwürfe gegen Gregor Gysi sind kampagnenhaft. Bis jetzt konnte er stets zeigen, dass er sich im Nebel der DDR-Justiz zurechtgefunden hat.

Bleibt umstritten: Gregor Gysi. Bild: dpa

Der Anwalt Gregor Gysi agierte in der DDR in einer Grauzone. Er verteidigte Oppositionelle wie Rudolf Bahro in politischen Prozessen, die notdürftig als Strafverfahren bemäntelt wurden. Die DDR war kein Rechtsstaat, die Justiz hatte, wenn es ernst wurde, kein eigenes Gewicht. Sie war der SED dienstbar.

Das mag banal klingen. Aber man muss daran erinnern, um die seit 1992 erhobenen Anklagen gegen den Fraktionschef der Linkspartei einzuordnen. Nicht die Gerichtssäle waren die entscheidende Bühne, auf der Rechtsanwälte in politischen Prozessen in der DDR zu handeln hatten, sondern die Hinterzimmer und Büroräume der Machthaber. Und dort existierte nicht Schwarz oder Weiß, dort gab es verschiedene Abstufungen von Grautönen. Wo endete der engagierte Einsatz für einen Mandanten, wo begann Kumpanei mit den Mächtigen?

Gysi wird seit 20 Jahren beschuldigt, in diesem nebeligen Raum die Orientierung verloren zu haben, Mandanten verraten und der Stasi zugearbeitet zu haben. Der Immunitätsausschuss des Bundestages befand 1998, dass Gysi Zuträger der Stasi war. Dieser Beschluss wird seitdem oft gegen ihn ins Feld geführt. Allerdings gab es schon damals Zweifler, die diesen Befund aus noblen Gründen für unzulässig hielten.

Der Nebel, in dem sich der Verteidiger Gysi in der DDR bewegte, wurde durch die Stasi-Akten noch dichter. Der FDP-Mann Jörg van Essen, seines Zeichens Staatsanwalt, gab 1998 ein bemerkenswertes Minderheitenvotum ab. Die Stasi-Akten seien widersprüchlich, und dass die politische Konkurrenz sich über Gysi in einem dem Strafprozess ähnlichen Verfahren ein Urteil anmaßte, fand der Liberale problematisch.

Im Rechtsstaat entscheiden nicht die Medien

Gysi ist es gelungen, vor allen bundesdeutschen Gerichten im Kern stets recht zu bekommen. Keiner der durchaus massiven Versuche, ihn als IM und Verräter seiner Mandanten zu brandmarken, hatte im Gerichtssaal Bestand. Und der ist im Rechtsstaat die entscheidende Bühne – nicht die Medien, nicht Leitartikel und Schlagzeilen, und auch nicht der Immunitätsausschuss des Bundestages.

Und der aktuelle Vorwurf gegen den Linksparteipolitiker? Gysi hat im Februar 1988 offenbar mit zwei Stasi-Leuten über ein Interview geredet, das er mit dem Spiegel gegeben hatte. Dies soll in Widerspruch zu einer aktuellen eidesstattlichen Erklärung von Gysi stehen, nie wissentlich und willentlich mit der Stasi gesprochen zu haben.

Ein Gespräch mit Stasi-Leuten über ein Spiegel-Interview – ist das eine bewegende Neuigkeit? Wie hätte der Anwalt Gysi in einem Gespräch, das in eigener Sache stattfand, Mandanten schaden können? In dem Verfahren, wenn es jemals dazu kommen sollte, wird nicht Mandantenverrat oder IM-Tätigkeit verhandelt werden – dazu gibt es nichts Neues –, sondern ein Detail, die Formulierung einer eidesstattlichen Erklärung. Das ist ein ganz kleines Karo. Also viel Aufregung um wenig.

Stefan Müller, parlamentarischer Geschäftsführer der CSU, verlangt von Gysi gleichwohl indirekt den Rücktritt. Die Staatsanwaltschaft ermittele ja nicht „wegen Lappalien“. Deswegen sei auch Gysis Immunität aufgehoben worden.

Schuldig bei Verdacht?

Diese Logik ist abstrus. Die Immunität soll Bundestagsabgeordnete vor rechtlicher Willkür schützen – in Müllers Lesart, die die CSU gewiss nur bei der politischen Konkurrenz gelten lassen wird, verkehrt sich dieser Schutz in ihr Gegenteil. Schon Ermittlungsverfahren, die oft still und leise wieder eingestellt werden, sollen automatisch zum politischen Aus führen. Würde dies gelten, wären eine Art Herrschaft der Justiz und mediale Empörungsdramaturgie über die politische Klasse nahe. Schuldig bei Verdacht.

Ob solche kampagnenartig anmutenden Vorwürfe der historischen Aufklärung dienen, ist mehr als zweifelhaft. Sie scheinen eher Rollenklischees aus dem Ossi-Wessi-Konflikt wiederzubeleben, die eigentlich glücklich überwunden schienen und als folkloristischer Zwist um Schwaben im Osten Berlins fortleben.

Doch bei Schlagzeilen über „Gysi-Stasi“ funktioniert die Identitätsmechanik sofort gut geölt. Die Linkspartei schmiedet einen Verteidigungsring, Westler versuchen mit leichtfertigen Stasi-Vorwürfen politische Geländegewinne zu machen. Waren wir nicht schon weiter?

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Stefan Reinecke arbeitet im Parlamentsbüro der taz mit den Schwerpunkten SPD und Linkspartei.

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