Kommentar Giftgas in Syrien: Russland verhindert Aufklärung
Moskau hat im UN-Sicherheitsrat ein Veto gegen weitere Untersuchungen eingelegt. Wer für den Angriff verantwortlich ist, bleibt ungeklärt.
W er ist dafür verantwortlich, daß am 4. April dieses Jahres mehr als 90 EinwohnerInnen der syrischen Stadt Chan Scheichun durch giftige Gase getötet wurden? Nach der Abstimmung am Dienstag im UN-Sicherheitsrat wird diese wichtige Frage auf lange Sicht unbeantwortet bleiben. Wenn nicht sogar für immer. Zugleich liefern das Ergebnis und der Zeitpunkt dieser Abstimmung Anlass und Nahrung für neue Fragen und Spekulationen.
Mit einem Veto brachte Russland einen Antrag der USA zu Fall, das Mitte November auslaufende Mandat zur Untersuchung der Schuldfrage durch ein gemeinsames Expertenteam der UN und der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) um ein weiteres Jahr zu verlängern. Und dies zwei Tage, bevor das Untersuchungsteam am Donnerstag das Ergebnis seiner Aufklärungsbemühungen der letzten zwölf Monate vorlegen wird.
Offensichtlich hat die Regierung Putin Anlass zu der Befürchtung, dass der Bericht zumindest Indizien enthält, wonach die syrische Luftwaffe am 5. April Giftgasbomben auf Chan Scheichun abgeworfen hat. Genau das behaupten auch die Trump-Administration und andere westliche Regierungen. Moskau hatte diese Version der Geschehnisse bislang vehement bestritten.
Die OPCW hatte bereits im Juni festgestellt, dass der Tod der mehr als 90 Menschen in der Tat durch den verbotenen Kampfstoff Sarin herbeigeführt wurde. Bereits dieses Untersuchungsergebnis steht in Widerspruch zu der Version Mokaus.
Demnach zerstörte am 5. April eine konventionelle Bombe unbeabsichtigt ein Depot mit hochkonzentriertem Chlor, das nach seiner Freisetzung durch den Wind über der Stadt verbreitet wurde. Chlor ist zwar kein verbotener chemischer Kampfstoff, kann aber in hochkonzentrierter Form ebenfalls den Tod von Menschen herbeiführen und wurde von den syrischen Streitkräften nach Feststellung der Experten von UN und OPCW in den vergangenen Jahren in mehreren Fällen eingesetzt.
Bemerkenswert bei der Abstimmung im Sicherheitsrat war, dass sich China – anders als bei früheren Entscheidungen zum Thema Syrien – diesmal dem Veto Russlands nicht anschloss. Durch ihre Enthaltung signalisierte die Regierung in Peking, dass sie von der russischen Version der Ereignisse nicht überzeugt ist und keine Einwände gegen eine Fortsetzung der Untersuchung hätte.
Warum die USA darauf bestanden, die Abstimmung im Sicherheitsrat unbedingt bereits vor der Veröffentlichung des neuen Berichtes und seiner Erörterung im Sicherheitsrat durchzuführen, hat die Trump-Administration bislang nicht mitgeteilt. Ging es ihr wirklich darum „Russland „bloßzustellen und zu entehren“ wie Moskaus Botschafter bei den Vereinten Nationen argwöhnte? Wollte Trump sich durch die von seiner UN-Botschafterin mit äußerst agressiver Rhetorik garnierte Konfrontation mit Russland Entlastung verschaffen?
Denn immerhin stehen derzeit sehr unangenehme Untersuchungen zu der Frage an, ob Trump seinen Sieg in der Präsidentschaftswahl 2016 der Unterstützung durch Moskau zu verdanken hat. Auch die pauschalen, bislang nicht im Detail belegten Vorwürfe Moskaus, das Expertenteam von UN/OPCW sei bei seinen bisherigen Untersuchungen „lachhaft“ und unprofessionell vorgegangen, werden nach der Entscheidung des Sicherheitsrats weiterhin ungeklärt bleiben.
Ohne eine beweiskräftige, für die Weltöffentlichkeit überzeugende Klärung der vielen offenen Fragen bleiben die Giftgastoten von Chan Scheichun Material für Propagandaschlachten und Verschwörungstheorien.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?