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Kommentar GenuaWas lange währt, wird endlich Unrecht

Michael Braun
Michael Braun
Kommentar von Michael Braun und Michael Braun

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gibt den Demonstranten die Schuld an Carlo Giulianis Tod beim G8-Gipfel in Genua. Dabei hätte er Korrektiv sein müssen.

F ast zehn Jahre sind vergangen seit den blutigen Tagen, als Italiens Polizei – der Regierungschef hieß auch damals Silvio Berlusconi – mit brutaler Gewalt den Protest gegen den G8-Gipfel in Genua niederknüppelte, den 23-jährigen Carlo Giuliani erschoss, eine von Gipfelgegnern als Schlafstätte genutzte Schule stürmte, in der folgenden Prügelorgie dutzende Gipfelgegner schwer verletzte und schließlich die gefangenen Protestierer systematisch misshandelte.

Doch jetzt darf sich der italienische Staat über ein leicht verfrühtes Jubiläumsgeschenk freuen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nämlich ist der Meinung, bei dem Todesschuss auf Carlo Giuliano handele es sich um einen klaren Fall von Notwehr: Notwehr des Carabinieri-Beamten, der von den Demonstranten in seinem Jeep massiv attackiert worden sei.

Damit gehen die Straßburger Richter noch ein Stück weiter als die italienische Justiz. Die hatte das Verfahren gegen den Todesschützen mit dem kühnen Argument eingestellt, das Projektil sei an einem durch die Luft fliegenden Stein abgeprallt und habe nur deshalb Giuliani getroffen.

MICHAEL BRAUN

ist Italien-Korrespondent der taz.

So oder so aber: Schuld sind in jedem Fall die Demonstranten. Dafür bemüht der EGMR den Kontext – fasst ihn jedoch sträflich eng. In Notwehr handelten nämlich zuerst und vor allem die Demonstranten. Obwohl ihr Zug genehmigt war, wurden sie ohne Vorwarnung mit CS-Reizgas-Granaten bombardiert, eingekesselt, von Knüppelkommandos ebenso wie von in die Menge fahrenden Einsatzfahrzeugen attackiert. Kurz: Wie insgesamt in Genua ging es auch in diesem Fall der Polizei – und ihren politischen Auftraggebern – darum, gezielt die Auseinandersetzung eskalieren zu lassen.

Diese Strategie ist aufgegangen, und alle an ihrer Umsetzung beteiligten Spitzenbeamten der Polizei machten in der Folge glänzende Karrieren. Der EGMR hätte hier die Rolle des Korrektivs spielen können. Traurig, dass er sich stattdessen dazu herbeiließ, dem polizeilichen Gewaltexzess auch noch das Siegel "menschenrechtskonform" zu verleihen.

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Michael Braun
Auslandskorrespondent Italien
Promovierter Politologe, 1985-1995 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Unis Duisburg und Essen, seit 1996 als Journalist in Rom, seit 2000 taz-Korrespondent, daneben tätig für deutsche Rundfunkanstalten, das italienische Wochenmagazin „Internazionale“ und als Wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Büro Rom der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Michael Braun
Auslandskorrespondent Italien
Promovierter Politologe, 1985-1995 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Unis Duisburg und Essen, seit 1996 als Journalist in Rom, seit 2000 taz-Korrespondent, daneben tätig für deutsche Rundfunkanstalten, das italienische Wochenmagazin „Internazionale“ und als Wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Büro Rom der Friedrich-Ebert-Stiftung.
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9 Kommentare

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  • JH
    Jürgen Hertweck

    Die Gesamtsituation stand für das Gericht nicht zur Debatte. Ein ordentliches Gericht kann kaum einen Vorgang: "Polizist erschießt einen Demonstranten" mit anderen Vorgängen (Polizeiknüppelei, unrechtmäßige Festnahmen...) aufrechnen.

    Der EGMR hatte ja nicht über die Rechtmäßigkeit des Polizeieinsatzes im Ganzen zu entscheiden.

     

    Wenn ich die Bilder noch recht im Kopf habe, hatten seinerzeit mehrere Demonstranten auf recht martialische Weise mit Kantholz, Metallstange, Feuerlöscher und Steinen einen stehenden Polizeiwagen attackiert - will heißen, die darin sitzenden Polizisten. Da konnte man sich schon fragen: "Wer war in dieser Situation Opfer und wer Täter?" (Sind Polizisten generell Angreifer,Patsch?)

     

    Herr Braun: Dieses hanebüchene Argument vom Projektil und dem fliegenden Stein mit dem Urteil des EGMR gleichzusetzen - dieser Vergleich hinkt nicht, der stolpert über die eigenen Beine.

  • L
    Lars

    Wer sich den Anweisungen der Polizei widersetzt und/oder Gewalt gegen Personen oder Sachen ausübt, der kriegt von der Staatsmacht im Auftrag und mit Zustimmung der ganz überwiegenden - nicht mehr schweigenden - Mehrheit auf die Fresse. Ist doch ganz einfach zu verstehen. Liebe Demonstranten, eure Gewalt ist keine Meinung!

  • H
    hopfen

    Also waren die Demonstranten schuld daran, dass der Staat offensiv auf Eskalation gesetzt hat...?

     

    Ich meine über die Schuld eins einzelnen Polizisten kann man streiten, ich möchte auch nicht mitten in eine Demo fahren müssen, aber die Gesamtsituation wurde doch von der Polizei/Politik aufgestachelt und bewusst zur Diskreditierung der Demonstranten genutzt.

  • P
    Patsch

    @ Peter:

     

    Falls das Ironie oder Sarkasmus sein soll ignoriere die nächsten Zeilen einfach, ansonsten:

     

    Was soll man tun wenn man von Polizisten angegriffen wird? Wer ist dann Opfer und wer Täter? Hat man das Recht sich zur Wehr zu setzten mit vergleichsweise geringer "Bewaffnung"? Oder muss man sich dann im Kessel die Lunge aus kotzen wegen dem CS-Gas, sich die Knochen brechen lassen, Augen von Wasserwerfer zerstören lassen oder von Einsatzfahrzeugen überfahren lassen? Und jetzt sag nicht das man damit rechnen muss wenn man auf eine Demonstration geht, das würde heißen das eine Demonstration nur dazu da ist sich die Köpfe ein zu schlagen und das ist es definitiv nicht.

     

    Das auf Demonstrationen u.Ä. nicht immer Jede/r nur brav ist, ist klar, das zählt aber genau so für Polizisten.

  • W
    wrzlbrmf

    Lieber Peter!

     

    Wer von Polizisten angegriffen wird, muss damit rechnen dabei umzukommen.

  • S
    snoopy

    Das Demonstrationsrecht gilt zwar, aber nimmt man es in Anspruch, muss man damit rechnen, erschossen zu werden.Toll! Die Diktatur unterscheidet sich also von der Demokratie dadurch, dass man frei wählen kann, wer einen erschießt. Das mit den Gerichten, das ist ja nichts Neues. Des Brot ich ess', dess" Lied ich sing.

  • NR
    Nier Reinhard

    Dieser Artikel trifft genau den Kern.

     

    Dieses sich als "demokratisch" gebene System des stinkenden faulenden Kapitals ist brutaler als das Staatskapitalistische System zu Wendezeiten in der damiligen DDR.

     

    Wer sich hier regt wird brutal aus dem Verkehr gezogen, wenn es um die Interessen der Großborgeoisie geht.

    Das war im Westen schon immer so, es wurde immer nur nach Osten geschaut.

     

    Es hat alles nur einen anderen Namen, ansonsten hat sich nichts geändert.

     

    R.N.

    12627 Berlin

  • M
    Mathias

    Der kleine Bruder meines Mitbewohners ist in Genua einfach verschwunden. Nach zwei Monaten intensiver Suche und des journalistischen Einsatzes haben wir erfahren wo er "sitzt" und ihn gegen Kaution freibekommen. In der ganzen Zeit der Haft hat er nicht einen einzigen Anwalt gesehen. :-(

  • P
    Peter

    Zum Glück gibt es noch Gerechtigkeit, habe ja schon fast befürchtet das Opfer wieder zu Tätern werden. Wer Polizisten angreift muss damit rechnen dabei umzukommen. Jeder hat es selbst in der Hand!