Kommentar Folter saudischen Bloggers: Und nun zum Staatsterrorismus
Das arabische Terrorverständnis ist ein etwas anderes als das europäische. Aber Europa hat keinen Grund zur Selbstzufriedenheit.
A rabiens repressive autokratische Regime vermarkten sich wieder einmal als die Verteidiger der Religion. In Saudi-Arabien wird Raif Badawi, ein liberaler Blogger und dezidierter Kritiker des erzkonservativen religiösen Establishments, jetzt jeden Freitag auf mittelalterliche Weise brutal ausgepeitscht. In Ägypten wurde am Montag der der Beleidigung der Religion angeklagte 21-jährige Student Karim al-Banna zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, weil er sich in den sozialen Medien als Atheist geoutet hatte.
Den Regimen sitzt die radikale islamistische Konkurrenz im Nacken. Ägyptens Staatschef und Feldmarschall Abdel Fattah al-Sisi muss beweisen, dass er nach dem Ausschalten der Muslimbruderschaft und im täglichen Kampf gegen militante islamistische Gruppen nicht die religiöse Hoheit verliert.
Die erzkonservativen saudischen Herrscher haben Angst, dass ihre religiösen Hardliner zur ideologisch nicht allzu weit entfernten radikaleren Konkurrenz des „Islamischen Staates“ überlaufen. Mit ein paar der Blasphemie angeklagten Bauernopfern versuchen die Regime nun das Feld der „Verteidigung der Religion“ zu besetzen. Das ist kein orientalischer Effekt und in der europäischen Politik vergleichbar mit konservativen Parteien, die versuchen, mit einer okzidentalen Themensetzung in der rechtsradikalen Ecke zu fischen.
Das Paradoxe dabei: In ihrem Eifer, den konservativen Gesellschaften ihre islamische Identität zu beweisen, machen die arabischen Regime eine islamistische Politik, die dem IS in vieler Hinsicht zur Ehre gereicht. Nach dem Motto: Wer sperrt mehr „Blasphemiker und Abtrünnige“ ein, wer foltert schlimmer? Interessanterweise ist im neuen saudischen Antiterrorgesetz nicht nur das Vergehen aufgelistet, in den Dschihad nach Syrien oder den Irak zu ziehen. Auch wer „die Fundamente der islamischen Religion infrage stellt, auf denen das Land basiert“, ist nach saudischer Definition ein Terrorist.
Das ist ein etwas anderes Terrorverständnis als das europäische. Aber Europa hat keinen Grund zur Selbstzufriedenheit. Denn der saudische Auspeitscher ist einer der wichtigsten Partner im internationalen Antiterrorkampf gegen den IS und gegen al-Qaida. Und schon hat die Realpolitik dem europäischen Charlie-Hochgefühl einen Strich durch die Rechnung gemacht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Jeder fünfte Schüler psychisch belastet
Wo bleibt der Krisengipfel?
Gespräche in Israel über Waffenruhe
Größere Chance auf Annexion als auf Frieden