piwik no script img

Kommentar FlüchtlingsabkommenRechtsstaatliche Skrupellosigkeit

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Die Türkei fühlt sich in der Frage der Visumfreiheit zu Recht von der EU betrogen und legt das Abkommen auf Eis. Das ermöglicht eine neue Chance.

Flüchtlinge im Süden Athens. Sie will die Türkei nur dann wieder aufnehmen, wenn die EU türkischen Staatsbürgern die visumfreie Einreise erlaubt Foto: ap

E rst vor wenigen Tagen noch hat Amnesty International den Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei als illegal und skrupellos bezeichnet. Jetzt hat die Türkei scheinbar darauf reagiert und das Abkommen erst einmal aus dem Verkehr gezogen.

Doch das hat nichts damit zu tun, dass die Rechte von Flüchtlingen durch das Abkommen mit Füßen getreten werden und sich als Konsequenz daraus immer mehr Flüchtlinge auf die im Vergleich mit der Ägäis noch viel gefährlichere Route von Libyen aus über das Mittelmeer machen. Nein, die Türkei fühlt sich von der Europäischen Union betrogen.

Und das zu Recht. Statt, wie ursprünglich versprochen, im Gegenzug für die Rücknahme der illegal nach Griechenland übergesetzten Flüchtlinge den türkischen Bürgern die visafreie Einreise in den Schengen-Raum zu gestatten, will Brüssel jetzt nichts mehr davon wissen. Die Türkei habe die dafür gestellten Bedingungen nicht erfüllt.

Es ist beschämend, wie hier Menschen gegeneinander ausgespielt werden. Zuerst bietet die EU der Türkei viel Geld und andere Vergünstigungen an, um Flüchtlinge abzublocken. Doch als es dann an den einzigen Punkt geht, der auch normalen türkischen Bürgern etwas bringen würde, entdeckt sie plötzlich rechtsstaatliche Skrupel. Dabei ist das ganze Abkommen mit der Türkei von Beginn an auf rechtsstaatliche Skrupellosigkeit aufgebaut. Ist doch das Recht auf Asyl damit de facto außer Kraft gesetzt worden.

Wenn sich jetzt bei Flüchtlingen und Schleppern herumspricht, dass erst einmal niemand mehr aus Griechenland zurückgeschickt wird, werden wieder mehr Menschen auf die griechischen Inseln kommen, statt die lange Fahrt übers Mittelmeer nach Italien zu versuchen. Vielleicht schafft die EU es dann in einem neuen Anlauf, diese Flüchtlinge gerecht zu verteilen, statt sich an schmutzigen Deals mit Präsident Erdoğan zu versuchen.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
Mehr zum Thema

5 Kommentare

 / 
  • Ist echt einer so naiv, dass er meint nach dem gescheiterten Türkei-Deal würde jetzt Europa den armen Flüchtenden die Tore aufmachen und die Willkommenskultur entdecken (Osteuropa) oder wiederbeleben (Deutschland).

     

    Es werden mehr Menschen wieder Hoffnung schöpfen und folglich absaufen.

  • Die EU hat lediglich schnelle und kurzfristige Verhandlungen über das VISA-Abkommen als Gegenleistungen für die Rücknahme von Flüchtlingen in Aussicht gestellt. Zu keinen Zeitpunkt war von bedingungsloser VISA-Freiheit die Rede. Lediglich schlecht informierte oder anderweitig getriebene Journalisten erwecken den Eindruck, dass hier ein Betrug der EU zulasten der Türkei vorläge.

     

    Ohne eine Korrektur des streitgegenständlichen Gesätzes in der Türkei droht binnen kurzer Zeit eine zusätzliche Fluchtwelle von verfolgten Türken.

     

    Ferner ist das Recht auf Asyl zu keinem Zeitpunkt außer Kraft gesetzt worden. Seit dem Abkommen stellen eine Vielzahl von Flüchtlingen Asylanträge in Griechenland (und werden während der Dauer des Verfahrens nicht abgeschoben). Somit ist erstmals seit Beginn der Fluchtbewegungen ein rechtsstaatliches System gewährleistet.

  • Ob die Türkei im Recht ist, wenn sie das Flüchtlinge ankommen rückgängig machen, wage ich zu bezweifeln. Andererseits verstößt dies Abkommen gegen das Recht auf asyl....

    Wiederum andererseits, braucht ein EU- Bürger ja auch kein Visum, um in die Türkei einreisen zu dürfen...

    Unterm Strich: dieser Flüchtlingedeal ist eine Milchmädchenrechnung, ausgetragen auf dem Rücken der Flüchtenden Menschen. Also: Neustart!

  • Hallo - ist hier noch die 'taz' ?

    Wenn ich die Medien bislang richtig verstanden habe, ist einer der Hauptpunkte für die Verweigerung der Visafreiheit das 'Anti-Terror-Gesetz'. Also jenes, welches einer Staatsmacht jegliche Handhabe gegen Kritik, Opposition, und freien Journalismus gibt, den sich eine autoritäre Regierung nur wünschen kann. Davon lese ich nichts im Artikel - ist der taz-Korrespondent schon auf Erdowahn Linie gebracht worden???

  • "Nein, die Türkei fühlt sich von der Europäischen Union betrogen. Und das zu Recht"

     

    Ich habe erst gehofft das ich mich verlesen habe, aber dem ist nicht so.

    Mittlerweile sollten doch alle wissen, das die Türkei nicht die geforderten Punkte umgesetzt hat, die eine Visum - Freiheit ermöglichen würden.