Kommentar Flüchtlinge: Wagemut und Härte
Im Mittelmeer ertrunkene Flüchtlinge interessieren nur wenige Europäer. Dabei treibt erst die Grenzpolitik der EU die Menschen zu solch riskanten Fahrten.
G erade einmal 50 Meter weit ist ein mit Flüchtlingen überladenes Fischerboot nach dem Auslaufen vor der türkischen Ägäisküste gekommen. Dann rammte das Boot einen Felsen und sank. Über 60 Menschen ertranken, dabei war das rettende Ufer so nah. Hauptsächlich Frauen und Kinder, die skrupellose Mannschaft hatte sie unter Deck eingesperrt. Wenige Stunden später geschieht ein ähnliches Drama vor der italienischen Insel Lampedusa. Ein in Tunesien gestartetes Fischerboot, ebenfalls völlig überladen, kenterte zehn Meilen vor der Insel, Dutzende Menschen werden vermisst.
Die Meldungen über ertrunkene Flüchtlinge, die den Versuch, das reiche Europa zu erreichen, mit dem Leben bezahlen, werden in Deutschland mit kaum mehr als einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen. In den anderen großen EU-Ländern sieht das nicht anders aus.
Warum steigen die Leute auch in solche Todeskähne? Können sie nicht selbst sehen, welches Risiko sie damit eingehen – und einfach in ihren Heimatländern bleiben? Der Wagemut der Flüchtlinge entspricht dem Grad ihrer Verzweiflung. Wer keine andere Chance für sich und seine Familie mehr sieht, wer es nicht mehr aushält, weiter in einem Flüchtlingslager dahinzuvegetieren, der macht sich auf den Weg.
ist Türkei-Korrespondent der taz.
Das gilt im Moment vor allem für Flüchtlinge aus Syrien. Ein großer Teil der vor der türkischen Küste ertrunkenen Menschen floh vor dem dortigen Bürgerkrieg, die anderen aus dem Irak. Doch während deutsche Politiker wortreich das Elend der syrischen Bevölkerung beklagen und den Krieg des Regimes in Damaskus gegen die eigene Bevölkerung kritisieren, wollen sie keine praktischen Konsequenzen daraus ziehen.
Warum können Flüchtlinge aus Syrien nicht legal nach Deutschland kommen? Statt wenigstens einem Teil von ihnen eine Perspektive in Europa anzubieten, und sei es syrischen Christen, treibt man sie skrupellosen Menschenschmugglern in die Arme. Dass jetzt wieder so viele auf dem Weg in die EU sterben, ist deshalb nicht der Unvernunft der Flüchtlinge geschuldet, sondern der brutalen Härte, mit der Europa verhindern will, dass diese Leute innerhalb der EU eine Chance bekommen.
An der türkisch-griechischen Grenze wendet die EU viel Geld auf, um mit ihrer internationalen Grenzschutztruppe Frontex die leichter zu überwindende Landgrenze dicht zu machen. Weil die Flüchtlinge trotzdem nicht aufgeben – was alle Experten natürlich wissen – werden sie auf den gefährlichen Seeweg abgedrängt. Die Toten werden, wie jetzt vor der Türkei, dabei billigend in Kauf genommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
CDU-Politiker Marco Wanderwitz
Schmerzhafter Abgang eines Standhaften