Kommentar Flüchtlinge und Kinderehen: Im Einzelfall entscheiden
Kinder gehören in die Schule und nicht in die Ehe – das wird sicher niemand bestreiten. Trotzdem greift das Argument zu kurz.
S ind sogenannte Kinderehen eine Form von Kindesmissbrauch? Ja. So sehen das jedenfalls viele Menschen. Und es stimmt ja auch: Bei Paaren, bei denen ein Partner – fast immer ist es die Frau – unter 16 Jahren und der Mann viel älter ist, kann man selten von einer gleichberechtigten Partnerschaft sprechen. Solche Ehen sind in Deutschland zu Recht verboten.
Aber was ist mit jenen Minderjährigen, die aus Syrien oder Afghanistan nach Deutschland kommen und bereits verheiratet sind? Sollte deren Ehe zum Schutz des Kindeswohls annuliert werden, so wie das Unions-Abgeordnete fordern? Kinder gehören in die Schule und nicht in die Ehe, begründen die PolitikerInnen. Das wird sicher niemand bestreiten. Trotzdem greift das Argument zu kurz.
Manche Mädchen bekommen das Recht zur Schule zu gehen erst nach einer Flucht aus einem Kriegsgebiet. Weil in ihrer Heimat Schulen zerstört sind oder religiös begründete Vorschriften den Zugang zu Bildung für Mädchen verhindern. Allein oder ohne männliche Begleitung können Mädchen und Frauen aus Krisenregionen aber kaum fliehen. Sei es, weil das ihrem Geschlechterbild widerspricht oder sie unterwegs Gefahren ausgesetzt sind: Vergewaltigung, Überfälle, Zwangsprostitution.
Ein Ehemann, der sie auf der Flucht begleitet, bietet Schutz. Minderjährige Schwangere und minderjährige Mütter haben auch nach der Flucht als Verheiratete einen sichereren Status als Unverheiratete.
Was spricht denn gegen eine Einzelfallprüfung in Deutschland? Sicher, das ist angesichts der rund 1.400 im Ausländerregister registrierten verheirateten Teenager kein geringer bürokratischer Aufwand. Aber der genaue Blick hilft gegen Pauschalurteile. Er kann zwischen Früh- und Teenagerehen unterscheiden, das Kindeswohl individuell beurteilen und filtert Zwangsehen heraus, die ohnehin verboten sind. Und er verhindert eine weitere Verschärfung der Lebensumstände mancher Minderjähriger.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen