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Kommentar Familienpolitik in ChinaZwei machen es nicht besser

Jutta Lietsch
Kommentar von Jutta Lietsch

China wendet sich von der Ein-Kind-Politik ab. Gut so! Diese Geburtenkontrolle war eines der großen Verbrechen der Menschheitsgeschichte.

Kindermodels machen Werbung für Kleidung in Peking. Foto: ap

N un ist es offiziell beschlossen: Jeder in China darf von jetzt an zwei Kinder bekommen. Überraschend ist das alles nicht. Seit Jahren warnen chinesische und ausländische Soziologen, Demografen und Ökonomen davor, dass die 1979 begonnene „Ein-Kind-Politik“ Chinas Bevölkerung aus der Balance bringt.

Zuletzt gab es viele Ausnahmen: Bauernfamilien, Angehörige ethnischer Volksgruppen oder Ehepaare, die selbst als Einzelkinder aufgewachsen sind, durften in den vergangenen Jahren mehr als ein Kind bekommen. Zudem konnte, wer Geld hatte, politisch einflussreich war oder prominent wie der Filmregisseur Zhang Yimou, einfach ein zweites, drittes oder viertes Kind bekommen. Die Behörden drückten gegen eine „Gebühr“ die Augen zu. Vielerorts waren diese erpressten Zahlungen eine wichtige Einnahmequelle für die Gemeindeämter.

Dass die Ein-Kind-Politik nicht mehr lückenlos durchgesetzt wurde, darf nicht über eine entscheidende Tatsache hinwegtäuschen: Diese im Namen eines großen sozialen Experiments der Kommunistischen Partei beschlossene Geburtenkontrolle gehört bis heute zu den großen Verbrechen der Menschheitsgeschichte.

Wie viele Millionen Frauen sind zu Abtreibungen – bis in den neunten Monat der Schwangerschaft – gezwungen worden? Wie viele sind daran gestorben? Wie viele seelisch und körperlich erkrankt? Die Antwort gehört zu den großen Tabus, über die Chinas zensierte Medien nicht debattieren dürfen. Die dramatischen Geschichten, die der Schriftsteller Mo Yan in seinem Roman „Frösche“ erzählt, können Ärzte, Mütter und Väter im ganzen Land bestätigen. Die Zwangsabtreibungen hat es bis in die jüngste Zeit gegeben.

Nun dürfen Chinesen zwei Kinder bekommen, weil es die Herren an der KP-Spitze erlauben

Und nun „dürfen“ die Chinesen zwei Kinder bekommen, weil es ihnen die Herren an der KP-Spitze erlauben. Alle weiteren aber müssen, wie bislang, abgetrieben werden. Nein, ein Ende der verbrecherischen Geburtenbeschränkung ist das nicht.

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Jutta Lietsch
taz.eins-Redakteurin
Bis Anfang 2012 Korrespondentin der taz in China, seither wieder in der Berliner Zentrale. Mit der taz verbunden seit über zwanzig Jahren: anfangs als Redakteurin im Auslandsressort, zuständig für Asien, dann ab 1996 Südostasienkorrespondentin mit Sitz in Bangkok und ab 2000 für die taz und andere deutschsprachige Zeitungen in Peking. Veröffentlichung: gemeinsam mit Andreas Lorenz: „Das andere China“, wjs-verlag, Berlin
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13 Kommentare

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  • Gerade Frau Lietsch müsste es als Asienkennerin besser wissen!

     

    Man schaue sich einfach mal in vielen anderen Ländern Südostasiens oder auf dem indischen Subkontinent um, wohin die Auswüchse von Armut und Überbevölkerung führen.

     

    Bezüglich der Ein-Kind-Politik werden teilweise noch Horrormärchen als Erbe der Mao-Zeit kolportiert. Aber was will man von der Presse eines Landes schon erwarten, die eigene 0,3% Wirtschaftswachstum schon frenetisch feiert, die 7% Wirtschaftswachstum in China jedoch als Krise und Rezessionskatastrophe bezeichnen?

  • Die Autorin ist wohl noch nie waehrend der Stosszeit mit der U-Bahn in Beijing gefahren.

    Wirtschaftlich ist die Abschaffung der Ein-Kind-Politik richtig, oekologisch aber bedenklich.

    Auch bei 7% Wirtschaftswachstum werden 1.3 Milliarden Menschen in 20 Jahren vier mal so viel konsumieren wie heute.

    • @Blauer Apfel:

      Was soll uns das jetzt sagen? Dass die Chinesen arm bleiben sollen?

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Nein, dass die Fauen weiterhin wie im Artikel beschrieben abtreiben und im Zweifel daran sterben sollen, damit China keine anderen Maßnahmen ergreifen muss, um eine gerechte und gesunde Gesellschaft zu ermöglichen.

        • @Karl Kraus:

          Davon hat "Blauer Apfel" aber nichts geschrieben.

  • "Wie viele Millionen Frauen sind zu Abtreibungen – bis in den neunten Monat der Schwangerschaft – gezwungen worden?"

    Übertreiben Sie da nicht ein wenig ? Ich dachte bisher, daß die Sanktionen bei mehr als einem Kind eher finanzieller oder sozialer Natur waren. Ja, es gab Berichte über Zwangsabtreibungen aber dies schien weder gesetzlich legitimiert noch der Regelfall zu sein. Und soweit ich mich erinnere sind Spätabtreibungen auch in China seit 2001 verboten.

     

    Selbstverständlich lerne ich auch gerne dazu. Gibt es belastbare Belege dafür, daß die Ein-Kind-Politik in China mit millionenfachen Zwangsabtreibungen durchgesetzt wurde ?

    • @jhwh:

      Das mit den Zwangsabtreibungen stimmt schon. Teilweise wurde sehr brutal vorgegangen. Und in einem Land mit 1,3 Milliarden Einwohnern kommen schnell ein paar Millionen Fälle zusammen. Allerdings vergisst die Autorin völlig, dass es ohne die 1-Kind Politik zu einer Bevölkerungsexplosion gekommen wäre. Mit unabsehbaren Folgen.

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Die Verringerung des immer noch exponentiellen Weltbevölkerungswachstums um einige hundert Millionen als "großes Verbrechen der Menscheheitsgeschichte" zu sehen ist zumindest ein wenig einseitig.

         

        Was die Zahl der Zwangsabtreibungen angeht: Mag sein (obwohl das als Beleg nicht durchgehen würde).

        Ein Satz jedoch wie "Alle weiteren aber müssen, wie bislang, abgetrieben werden." ist völlig daneben.

        • @jhwh:

          Was bitte ist daran "daneben" oder "einseitig" massenhafte Zwangsabtreibungen als großes Verbrechen zu bezeichnen?

           

          Es geht dabei nicht um den Aspekt der Ökonomie, sondern um das Menschliche, die Psychologie und auch die Gesundheit der Menschen in China. Fragen Sie doch mal Frauen in Europa, wie es ist, ein Kind abzutreiben, wenn man es eigentlich gar nicht abtreiben möchte. Und das noch staatlich verordnet?!?

           

          Ich finde die Kommentare diesbezüglich ziemlich daneben.

          • @Hanne:

            Liebe Hanne,

            genau das sind die Mißverständnisse, in die uns Frau Lietsch mit Ihrem Kommentar laufen läßt.

             

            Selbstverständlich sind Zwangsabtreibungen schwerste Verbrechen und wenn sie massenhaft vorgenommen werden, ist es umso schlimmer. Aber die Autorin bezeichnet nicht diese Zwangsabtreibungen sondern die Ein-Kind-Politik als Verbrechen. Das ist ein Riesenunterschied. Letztere ist die Reaktion auf ein explosionsartiges Bevölkerungswachstum in den 60er Jahren zur Vermeidung einer vorhersehbaren Hungersnot. Die moralische Einordnung dieser Maßnahme ist seit mehreren Jahrzehnten Gegenstand von Diskussionen (schwerer Eingriff in Persönlichkeitsrechte vs. Vermeidung von Millionen Hungertoten). Wenn die Autorin vor dem Hintergrund einer solchen Güterabwägung die Ein-Kind-Politik als "schweres Menschheitsverbrechen" bezeichnet, nenne ich das mindestens einseitig.

             

            "Daneben" nenne ich einen Satz, der dem Leser suggeriert, daß die Zwangsabtreibung die normale Sanktion für eine zweite Schwangerschaft ist und war. Das ist schlichtweg falsch. Diese Schwangerschaften wurden in aller Regel ausgetragen. Danach allerdings hatten die Eltern mit finanziellen und sozialen Sanktionen zu rechnen (z.B. Geldstrafen, Arbeitsplatzverlust, Wohnungsverlust). Die Aussicht auf diese Strafen und der besondere Ehrgeiz einiger Parteigenossen gepaart mit Geburtenvorgaben für ganze Betriebe oder Wohngebiete führte dann dazu, daß sich viele Frauen zur Abtreibung genötigt sahen oder gar gezwungen wurden. "Staatlich verordnet" wie Sie es ausdrücken, sind Abtreibungen jedoch nicht.

          • @Hanne:

            Das klingt in der Tat sehr technisch hier. Ein Minibeispiel für eine technokratische Denke, die rational daher kommt und berechenbare Effekte in den Vordergrund stellt und zugleich den Hinweis auf die Auswirkungen bei den Betroffenen marginalisiert und sie nicht so recht zur Kenntnis zu nehmen bereit ist. Ein interessanter Mechanismus.

        • @jhwh:

          Ich finde auch, dass die Autorin mächtig dick aufträgt und völlig außer Acht lässt, was ohne diese Politik passieren würde.

  • Ich wundere mich, wie oberflächlich hier recherchiert wurde.

    Ethnische Minderheiten waren schon lange vom Ein-Kind-Diktat ausgenommen.

    Auch "Bauern" in ärmlichen Regionen bekamen keine Probleme.

    Bei allen anderen galt, dass das zweite Kind keine Zugang zu Kindergarten, Schule, Uni etc hat. Für die reiche Mittelschicht kein Problem. Das war auch politisch gewollt