Kommentar Familiennachzug: Grausames Glücksspiel
Die „humanitären“ Kriterien für die Auswahl beim Familiennachzug sind zweifelhaft und liefern die Geflüchteten der Behördenwillkür aus.
E iner der schrecklichsten Zustände für Menschen besteht in dem Gefühl, das eigene Schicksal nicht selbst beeinflussen zu können, ausgeliefert zu sein an unberechenbare Entscheider. In dieser Situation befinden sich viele Geflüchtete, nachdem das neue Gesetz zum Familiennachzug für Menschen mit sogenanntem subsidiärem Schutz am Freitag verabschiedet wurde.
Mit dem Gesetz wird die Zahl der Nachziehenden auf 1.000 Menschen im Monat beschränkt. Geflüchtete, deren Ehepartner und Kinder im Herkunftsland sind, müssen Anträge auf den Nachzug stellen und dann auf ihr Glück hoffen –wie vor einer Losbude. Unwürdiger geht es nicht mehr.
Da hilft es wenig, dass das Gesetz auf „humanitäre Kriterien“ bei der Auswahl verweist. Wessen Familie in unmittelbarer Gefahr schwebt, wer schon sehr lange auf die Kinder und Partner wartet, wer besonders kleine oder kranke und behinderte Kinder hat, der soll laut Gesetz Vorrang haben. Das Recht auf Familienleben darf aber nicht daran geknüpft werden, dass jemand im Rollstuhl mitten im Bombenhagel sitzt oder schwerkrank ist.
Zynisch ist erst recht das Kriterium der langen Wartezeit – man braucht also erst ein paar Trennungsjahre von der Familie, bevor der Antrag eine Chance hat auf Bewilligung. Wobei die Kinder während der Wartezeit ja nun mal älter werden, was wiederum die Chancen auf den Nachzug mindert.
Unwürdiger kann man Bürokratie kaum gestalten
Es wird nicht besser dadurch, dass auch „Integrationsaspekte“ eine Rolle spielen sollen. Wer in Deutschland Ausbildung und Arbeit hat und einigermaßen Deutsch kann, soll es leichter haben, Frau und Kinder nachzuholen. Was aber hat die Jobsituation eigentlich mit dem Recht auf Familie zu tun?
Unwürdiger kann man Bürokratie kaum gestalten als bei dieser Auswahl, um die man auch die ausführenden Mitarbeiter in Botschaften, Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichten nicht beneidet. Dabei hätte die Regierung es einfacher haben können. Sie hätte etwa eine Stichtagsregelung einführen können, die den bereits hier lebenden Geflüchteten den Nachzug gestattet und ihn erst für die Zukunft beschränkt.
Aber es ging nie um die schätzungsweise 50.000 Angehörigen der Geflüchteten, die jetzt von der Restriktion betroffen sind. Die Große Koalition sendet vor allem ein Signal der Härte aus, mit Blick auf die AfD-Wähler. Das Schicksal der Betroffenen ist da wurscht. Es ist eine Schande.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nachtcafé für Obdachlose
Störende Armut
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau