Kommentar Demokratie in der EU: Zu viel der Freundschaft
Man kann die EU durchaus für eine gute Idee halten, ohne den Nationalstaat aufgeben zu wollen. Über die Grenzen der Integration muss gesprochen werden.
D as ist gerade noch mal gut gegangen. Mit seiner Entscheidung, die EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung für unwirksam zu erklären, hat der Europäische Gerichtshof eine Brandmauer für den Schutz der Grundrechte gezogen. Wenn das nicht eindeutig ein unwiderlegbares Argument für die Stärkung europäischer Institutionen und die Fortschreibung der europäischen Integration ist! Erhebt sich noch Widerspruch?
Ja, durchaus. Das Urteil – so erfreulich es für alle Bürgerrechtler ist – wirft ein Schlaglicht auf die Erosion der Demokratie in der Europäischen Union. Das ist nicht die Schuld der Richter. Sie haben ihren Job gemacht, und sie können nichts dafür, dass es immer häufiger Gerichte sind, die politische Grundsatzentscheidungen treffen. Und nicht Abgeordnete. Obwohl das System der parlamentarischen Demokratie so eigentlich nicht gedacht ist.
Schon lange ging es bei der Vorratsdatenspeicherung nicht mehr überwiegend um das Pro und Contra, sondern um äußerst komplexe juristische Abwägungen und Zuständigkeiten. Darunter übrigens auch um die Frage nach dem Stellenwert der deutschen Verfassung im Gefüge der Europäischen Union. In den Feinheiten ist das Thema nur noch für Fachleute verständlich, obwohl es im Kern buchstäblich alle angeht. Warum sind eigentlich so viele Politiker überrascht, dass sich große Teile der Bevölkerung von der Politik angeödet abwenden?
Wenn ein Fachstudium und mehrere Praktika erforderlich sind, um innerhalb eines demokratischen Systems eine politische Grundsatzfrage kompetent erörtern zu können, dann braucht man sich über eine schlecht gelaunte Öffentlichkeit nicht zu wundern. Demokratie drückt sich nämlich nicht nur durch das allgemeine Wahlrecht aus. Sondern auch darin, dass man mit der eigenen Meinung ernst genommen wird und werden muss.
Innerhalb der EU ist das in immer geringerem Maße der Fall. Die Konstruktion der Gemeinschaft bedeutet: Regierungen sind bei gemeinsamen Entscheidungen keinerlei Kontrolle mehr unterworfen – außer einer juristischen –, wenn sie sich denn einig sind.
Ein Problem der Repräsentation
Kann die EU ein Zuhause sein? Ja, finden Silvia Koch-Mehrin und Ursula von der Leyen. Für wen Brüssel ein Sehnsuchtsort ist und wie junge Griechen in einer verslumten Gasse ihre Zuversicht wiederfinden, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 12./13. April 2014. Außerdem: Die letzte Fotoreportage von Anja Niedringhaus. Sie wurde bei ihrer Arbeit in Afghanistan erschossen. Und: Warum viele Palästinenser bei einem Filmprojekt über Jerusalem nicht mitmachen. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Selbst wenn durch Reformen die Stellung des Europäischen Parlaments gestärkt würde, dann bliebe das Problem der Repräsentation: Naturgemäß sinkt die Bedeutung der Wählerin oder des Wählers, je größer die Zahl derjenigen ist, die durch einzelne Abgeordnete vertreten werden. Und selbstverständlich repräsentieren einzelne Abgeordnete im Europaparlament umso mehr Bürger, je größer die EU ist. Es sei denn, man wünscht ein Mammutgremium von mehreren tausend Parlamentariern zu etablieren.
Eine absurde Idee. Wie ja so manches innerhalb der EU ziemlich absurd ist. Geredet wird über derartige Probleme allerdings selten. Beleidigungen scheinen zu genügen.
Es hat sich eingebürgert, jede grundsätzliche Skepsis gegenüber einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration mit dem Diktum „europafeindlich“ zu belegen und die Skeptiker darauf hinzuweisen, dass die EU den Frieden innerhalb Europas sichere. Wenn das Wort „Frieden“ fällt, dann wird übrigens immer sofort von „Europa“ gesprochen. Der technokratische Begriff „EU“ kommt nicht mehr vor – und der in diesem Zusammenhang nicht ganz unwichtige Begriff „Mitgliedsländer“ schon gar nicht.
Selbst bei einem komplizierten wirtschaftspolitischen Thema lässt sich das große Streichorchester einsetzen, wenn es um Europa geht. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl sagte 1997 im Bundestag zur Einführung des Euro, das sei „eine historische Chance. Und wer das nicht begreift, dem ist sowieso nicht zu helfen.“ Der SPD-Politiker Rudolf Scharping nannte die neue Währung „unverzichtbar für die dauerhafte Sicherung von Frieden“. Helmut Lippelt von den Grünen erklärte: „Den Terminplan infrage zu stellen, bedeutet die europäische Katastrophe.“ Derartige Sätze beenden jede Diskussion.
In den 90er Jahren war es nicht möglich, die Einführung des Euro und die Osterweiterung der Europäischen Union zu kritisieren, ohne in den Verdacht zu geraten, nationalistisch zu sein. Heute verhält es sich ähnlich im Hinblick auf den – axiomatisch gesetzten – Wunsch, Europa möge mit „einer Stimme“ sprechen und auch sicherheitspolitisch eine Einheit bilden.
Die Bedeutung der Armee
Als ob es innerhalb der EU keine Interessengegensätze gäbe und geben dürfe. Was für ein Unsinn. Die Idee einer europäischen Armee mit gemeinsamem Oberkommando würde schon daran scheitern, dass niemals in der Geschichte eine Atommacht bereit gewesen ist, anderen ein Mitspracherecht über die eigenen Waffen einzuräumen. Da endet jede Freundschaft.
Eine gemeinsame europäische Armee würde übrigens auch – faktisch, wenngleich vielleicht nicht juristisch – das Ende des Rechts jeder nationalstaatlichen Regierung bedeuten, über Krieg und Frieden entscheiden zu dürfen. Die Finanzkrise innerhalb des Euroraums hat bereits deutlich gemacht, wie weit das Haushaltsrecht – angeblich das „Königsrecht“ des Parlaments – ausgehöhlt worden ist.
Wenn der Bundestag weder souverän über den eigenen Haushalt noch über Krieg und Frieden entscheiden dürfte: Wen wählen wir eigentlich noch, wenn wir zur Bundestagswahl gehen? Welche Kompetenzen haben unsere Abgeordneten?
Nun kann man die EU durchaus für eine gute Idee halten, ohne den Nationalstaat aufgeben zu wollen. So, wie man mit jemandem sehr gut befreundet sein kann, ohne deshalb mit ihm oder ihr zusammenziehen zu wollen. Weil man nämlich weiß, dass allzu große Nähe einer Freundschaft durchaus nicht immer guttun muss. Sie kann dadurch auch zerstört werden.
Aber es ist kaum je seriös darüber diskutiert worden, ob die europäische Integration nicht auch Grenzen haben muss. Alle Fachleute wussten, dass dringend besprochen werden sollte, ob man der Frage „Vertiefung“ oder „Erweiterung“ höhere Priorität einräumen sollte. Aber man hat diese Frage nicht erörtert, sondern liegen lassen. In der Hoffnung, dass sich das schon irgendwie von selbst regeln werde.
Es hat sich ja auch geregelt. Und zwar so: Im Hinblick auf Sozialleistungen findet seit vielen Jahren ein Wettbewerb um Harmonisierung nach unten statt. Soll heißen: Je weniger Leute verdienen und je schlechter sie sozial abgesichert sind, desto besser für „Europa“. Oder so.
Hinzu kommt: Jedes bürokratische System hat die Tendenz, sich krakenartig auszuweiten – schon um die eigene Existenzberechtigung nachzuweisen. Was zu immer neuen Verordnungen führt, die oft dem gesunden Menschenverstand widersprechen.
In der Praxis nicht ganz so wunderbar
Ein Beispiel: die Pflicht zur europaweiten Ausschreibung von kommunalen Bauvorhaben. Eine wunderbare Idee. Theoretisch. In der Praxis dann allerdings nicht ganz so wunderbar. Firmen im fernen Portugal oder sonst wo hatten längst Insolvenz angemeldet, wenn deutsche Gemeinden feststellten, dass Nachbesserung erforderlich war. Die Idee einer regionalen Strukturförderung, die einst mit öffentlichen Aufträgen verbunden war, hatte sich ohnehin erledigt. Und dann? Dann wurden halt – seufzend – Steuermittel zur Behebung von Schäden eingesetzt.
So wirbt man nicht für ein Produkt oder eine Idee, auch nicht für Europa. Der Versuch, jede offene Auseinandersetzung zu unterdrücken, wirkt im Regelfall kontraproduktiv. Aber vielleicht ist es ja noch nicht zu spät.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen