piwik no script img

Kommentar Brexit-VerhandlungenBrexit statt Kohl

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Großbritannien wird 2019 die EU ver­lassen. Das ist kein Verrat an der europäischen Idee, sondern ein Ausdruck des politischen Pluralismus.

Sich jetzt über Premierministerin Theresa Mays Autoritätsverlust zu mokieren, wäre kurzsichtig Foto: dpa

E s ist eine listige Fügung der Geschichte, dass kurz vor dem geplanten Beginn der Brexit-Verhandlungen Helmut Kohl gestorben ist. Untrennbar bleibt mit dem Wirken des deutschen Exkanzlers die Überzeugung verbunden, dass die europäi­sche Einigung alternativlos ist. Wenn der Brexit gerade in Deutschland auf Unverständnis stößt, dann deshalb, weil er diese Überzeugung infrage stellt. Der erste Austritt eines EU-Mitglieds aus der Europäischen Union zeigt, dass es in Europa mehr als eine einzige mögliche Zukunft gibt. Die Ära Kohl ist auch europapolitisch vorbei.

Niemand kann angesichts des Niedergangs von Griechenland oder der mörderischen Flüchtlingspolitik noch ernsthaft behaupten, dass die EU die ausschließliche Quelle politischer Weisheit in Europa ist – Schweizer, Norweger oder Isländer waren davon sowieso nie zu überzeugen. Deswegen ist der Brexit kein Verrat an der europäischen Idee, sondern eine Manifestation des politischen Pluralismus.

Leider prägt die Überzeugung, dass das nicht sein darf, viele Äußerungen von EU-Seite vor dem Beginn der Brexit-Verhandlungen: vom Beharren auf einer von London zu zahlenden möglichst hohen „Austrittsrechnung“ bis zur arroganten Rhetorik aus den Kreisen derer, die sich, weil sie das Projekt Europa vertreten, für etwas Besseres halten.

In Großbritannien selbst hat der überraschende Wahlausgang vom 8. Juni einiges in Bewegung gebracht. Premierministerin Theresa May hatte die vorzeitigen Neuwahlen mit dem Wunsch nach Stärkung ihrer politischen Hausmacht begründet.

Erreicht hat sie das Gegenteil: den Verlust ihrer Parlamentsmehrheit und die Wiederbelebung der Opposition. Es wird für die angeschlagene May jetzt viel schwerer sein, für irgendein Ergebnis der Brexit-Gespräche eine parlamentarische Mehrheit zu bekommen.

Kontrolle über Gelder, Grenzen und Gesetze

Ein Scheitern der Verhandlungen und ein „harter Brexit“, also der Austritt Großbritanniens aus der EU ohne Folgevereinbarung, wird damit wahrscheinlicher als vorher. Denn wenn es keine parlamentarische Mehrheit in London für ein Verhandlungsergebnis gibt, tritt dieses nicht in Kraft, und Großbritannien verlässt die EU trotzdem.

Im Wahlkampf wurde oft fälschlich behauptet, May wolle dieses Sze­nario. Tatsächlich war sie bloß als Einzige ehrlich genug, ein Scheitern der Gespräche nicht auszuschließen. Labour hingegen vertrat überhaupt keine ehrliche Position: Die Opposi­tions­partei befürwortet den Austritt aus der EU sowie aus dem Binnenmarkt, will aber die „Vorzüge“ des Binnenmarkts behalten – ohne zu sagen, welche dies sind und wie das gehen soll.

Die konservative Regierung will die vollständige Kontrolle über britische Gelder, Grenzen und Gesetze. Das bedeutet: kein freier Personenverkehr, und damit ist ein Verbleib im Binnenmarkt nicht möglich; keine Unterordnung unter den EU-Gerichtshof – damit fällt ein Verbleib in der Zollunion weg. Man muss diese Position nicht teilen, aber zumindest ist es eine.

Keine Sorge: Europa ist mehr als die Europäische Union und auch mehr als Helmut Kohl

Sich jetzt über Mays Autoritätsverlust zu mokieren, wäre kurzsichtig. Mays Verlust ihrer Parlamentsmehrheit bringt in Großbritannien neue Kräfte ins Spiel und befördert die Debatte. Die schottischen Konservativen schließen einen Verbleib im Binnenmarkt nicht aus, pochen aber auf eine Sperrung der Territorialgewässer für europäische Fischer; die nord­irischen Unionisten wollen keine „harte“ Grenze nach Irland, aber auch keinen Binnenmarkt.

Vor allem aber ist May jetzt offensichtlich nicht mehr die einzige Vertreterin des britischen nationalen Interesses. Schon in der Wahlnacht forderten manche eine „Regierung der Nationalen Einheit“ für den Brexit. Das ist unrealistisch, aber denkbar sind Brexit-Allparteienkommissionen, um die Verhandlungen zu gestalten. Die Premierministerin könnte, wenn sie klug agiert, die Schwächung ihrer Person in eine Stärkung ihrer Politik verwandeln.

Schließlich waren die britischen Wahlen eben kein Votum gegen Mays Brexit-Politik an sich. Es dominierten andere Themen. Darüber hi­naus stimmten 88 Prozent der Wähler für den Brexit samt Austritt aus dem Binnenmarkt. So wird wohl Großbritannien im März 2019 die EU ver­lassen. Dann wird es Übergangslösungen geben und eine neue Partnerschaft. Es besteht aber kein Grund zur Sorge. Europa ist mehr als die EU und mehr als Helmut Kohl.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
Mehr zum Thema

10 Kommentare

 / 
  • 6G
    60440 (Profil gelöscht)

    Ich geh die Wette ein, dass es zu keinem Brexit kommen wird, weder hart noch weich noch sonst wie.

    Entweder das britische Parlament stimmt gegen das sicherlich schlecht oder gar nicht ausgehandelte Brexit-Abkommen;

    oder die Schotten und Nordiren erzwingen eine Kursänderung;

    oder der Unmut über das sich bereits jetzt deutlich absehbare Desaster erzwingt eine neue Volksabstimmung, die zu einer völligen Umkehrung führt.

    Es wird einen Exit aus dem Brexit geben.

    Klein-Britannien geht mit einer dead walking woman in die Verhandlung mit der EU, denen weder sie noch ihre Partei, noch das Land in irgendeiner Weise gewachsen ist.

    Die Tories, die durch nun zwei vom Zaun gebrochene unnötige Abstimmungen endgültig unter Beweis gestellt haben, dass sie es nicht können, sind untereineinander zerstritten und zudem abhängig vom Wohlwollen einer durchgeknallten extremen Partei.

    Währenddessen geht die Wirtschaft baden. Binnen Jahresfrist kann jeder sehen, wohin Alleingänge à la Trump oder May führen: Ins Abseits.

    Und sage keiner, Brexit heisse Brexit und sei alternativlos. Es findet sich immer ein Ausweg. Und schon ist Kohls Vermächtnis wieder gültig.

    Es geht in Europa nicht ohne EU. Das wissen im Übrigen auch Schweizer, Norweger und Isländer, die nicht umsonst massiv verbandelt sind mit der EU und auch Gelder an sie leisten, ganz ohne Vollmitgliedschaft ...

  • Bitte nicht wieder alles so kompliziert machen: Großbritannien will raus aus der EU und es will die Voraussetzungen für Binnenmarkt und Zoll-Union nicht erfüllen. Kein Problem, die EU macht mit der ganzen Welt Geschäfte, warum nicht auch mit GB und auf genau den gleichen Grundlagen? Wenn GB einzelne Gesetze und Regelungen der EU weiter übernimmt, wird das für beide Seiten das Leben einfacher machen und die EU wird kein Copyright darauf erheben. Und sollte sich GB zu einem Land entwickeln, dass sich als Steueroase sieht, so wird es von der EU auf die gleiche Weise mit harten Bandagen bekämpft werden müssen, wie jedes andere Land, das das versucht. Ansonsten dürfen die Brexit Wähler dann gerne genießen, wie sich Wirtschaftsliberalismus pur in ihrem Land so anfühlt, wenn man die Folgen nicht mehr auf die EU schieben kann. Es steht allerdings zu vermuten, dass sie das eigentlich gerade nicht wollten. Und die EU Bürger, die jetzt in GB leben? Das ist allein die souveräne Angelegenheit der Regierung in London, im Zweifelsfall müssen sie damit leben, dass sie GB verlassen müssen, mit dem Imageverlust müssen die Briten dann selbst zurecht kommen. Einen Grund, sich dafür irgendetwas abhandeln zu lassen, gibt es jedenfalls keinen.

  • 6G
    6474 (Profil gelöscht)

    "Darüber hinaus stimmten 88 Prozent der Wähler für den Brexit samt Austritt aus dem Binnenmarkt."

     

    -Dann bin ich wohl falsch informiert? Ich zitiere mal: Bei einem Referendum des Vereinigten Königreichs am 23. Juni 2016 stimmten 51,89 % der Wähler – das entsprach 37,44 % der Wahlberechtigten – für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union („Brexit“). "

     

    -Ich würde mal sagen, das war eine sehr knappe Wahl mit einer Menge falscher Versprechungen, die heute ein Jahr später vermutlich völlig anders ausgehen würde.

    • @6474 (Profil gelöscht):

      Der Autor hat die Zahlen aller Parteien, die sich vor der Unterhaus-Wahl pro Brexit geäußert haben, zusammengezählt. Dann kommt man auf 88%.

      Beim eigentliche Votum für den Brexit waren es die von Ihnen genannten 51,89%. (Auch wenn das oft gemacht wird: Die die nicht zur Wahl gegangen sind, dürfen Sie nicht rechnen. Bei denen weiß man ja nicht, was sie gewählt hätten, wären sie zur Wahl gegangen.)

  • 6G
    6474 (Profil gelöscht)

    "....bis zur arroganten Rhetorik aus den Kreisen derer, die sich, weil sie das Projekt Europa vertreten, für etwas Besseres halten..."

     

    -Ist das nicht eine absolute Verdrehung der Tatsachen? Halten sich nicht gerade die alten Briten(die jungen haben ja für den Verbleib gestimmt) für etwas viel besseres als den Rest Europa?

    • 8G
      81331 (Profil gelöscht)
      @6474 (Profil gelöscht):

      "die jungen (Briten) haben ja für den Verbleib gestimmt", das sehe ich anders, viele junge Briten haben überhaupt nicht abgestimmt.

  • 8G
    83379 (Profil gelöscht)

    Letztlich ist der Brexit Ausdruck von 3 Dingen:

     

    Xenophobie, der Wahlkampf wurde mit exzessiv rassistischen und fremdenfeindlichen Untertönen geführt.

     

    Geiz, die sehr wohlhabenden Briten wollten nicht länger schwächeren unter die Arme greifen, gleichwohl war der Tenor würden sie weiterhin unbeschränkten Marktzugang genießen.

     

    Anti-Globaliserung, gegen Flüchtlinge, Outsorcing, etc. Die Menschen wollen keine globalisierte Welt, keinen Multikulturalismus, keine verknüpfte Ökonomie 3.0 sie wollen ihre verstaatlichten Fabriken und Minen aus den 60ern, ihren Fischfangen ohne Quote, und eine weiße gesellscahft etc. Das dies in einer globalisierten Welt nicht geht Abschottung und Wohlstand ist den meisten nicht klar.

    Wer hier aber nicht Ausdruck eines zutiefst abstoßenden Gegenbildes des ideals (!!!!) eines vereinigten Europas sieht der ist wahrhaft blind.

  • Ich hoffe mal, die Aussage

     

    "Darüber hinaus stimmten 88 Prozent der Wähler für den Brexit"

     

    ist ein Tippfehler (richtig sind 51,89%).

     

    Ich habe mit dem Ausscheiden des UK kein Problem - das ständige Stänkern, Sticheln und Extrawurst-Fordern der Briten mit ihrem imperialen Gehabe war schon sehr nervend. Was mich allerdings stört: Diese Volksabstimmung war ein erstes Musterbeispiel für den Erfolg moderner Demagogie (auch in Zusammenarbeit mit einer extrem manipulierenden Presse), die die dreiste Lüge zum Prinzip politischer Dummenfängerei erhoben hat.

  • Pluralismus ist:

    Orban, Le Pen, Podemos, Kohl, May, Ausländerbashing in England und sonstwo, Flüchtlinge mal reinlassen oder wahlweise Grenzschließung, rein in EU oder raus....?

     

    Liberalismus so wie das für uns alle und Europa gut ist, ist keine Beliebigkeit!

  • Schöner politischer Pluralismus: Seit Beginn der "Informationsschlacht" vor dem Brexit Referendum, in dem massiv Stimmung gegen (EU-)Ausländer gemacht wurde, hat sich die britische Bevölkerung die Erlaubnis abgeleitet, massiv ausländerfeindlich handeln zu dürfen. Seitdem werden Ausländer zusammengeschlagen, schikaniert und selbst von den Behörden schon vor der offiziellen Erklärung des Austritts aus der EU aufgefordert, Großbritannien zu verlassen, selbst wenn sie seit Jahrzehnten in England leben und arbeiten, Steuerm zahlen und Familien haben.

    Komisch nur, dass davon kaum etwas in deutschen Medien berichtet wird.

    Und nein, das ist nicht einfach nur politischer Pluralismus - erst recht nicht in einem Land, das Deutschland immer sehr laut seine rechtsextreme Vergangenheit vorgehalten hat. Das ist die Demonstration, dass sie daraus leider nichts für ihre eigene Politik gelernt haben. Sehr bedauerlich - und hoch gefährlich!