piwik no script img

Kommentar Berliner TourismusbilanzDie disneyfizierte Hölle verhindern

Erik Peter
Kommentar von Erik Peter

Wieder hat es mehr Touristen in die Stadt gezogen. Ein Grund zur Freude ist das nicht. Es ist höchste Zeit die Notbremse zu ziehen und das Stadtmarketing zu beenden.

Touristenattraktion Nummer eins: das Brandenburger Tor Foto: dpa

A uch in den ersten sechs Monaten dieses Jahres sind wieder mehr Touristen in die Stadt gekommen. Diesen „positiven Trend“ hat Berlins Tourismusgesellschaft am Dienstag verkündet. Das Wachstum ist laut dem Statistischen Landesamt seit 1996 ungebrochen. Damals besuchten 3,3 Millionen Gäste die Stadt. Allein im ersten Halbjahr 2018 waren es nun 6,4 Millionen Menschen, 4,4 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.

Jetzt können also wieder alle jubilieren: die Stadtwerber, weil sie ihren Daseinszweck erfolgreich bestätigt haben, die Hoteldirektoren und Wachsfigurenkabinettbetreiber, die weiter kräftig verdienen, die Wirtschaftssenatorin, die sich die positiven Effekte für die Ökonomie auf ihr Konto schreiben kann. Dazu freuen sich auch viele, die nicht direkt profitieren, BürgerInnen und Kommentatoren des Stadtgeschehens. Unhinterfragt nehmen sie die Wachstumszahlen als gute Nachricht auf, ebenso wie sie ein steigendes Bruttoinlandsprodukt oder neue deutsche Exportrekorde gutheißen. Die Ideologie eines auf Wachstum fokussierten Kapitalismus hat die Hirne vernebelt.

Denn tatsächlich gibt es keinen Grund zur Freude. Sosehr jedem Einzelnen seine Reise nach Berlin gegönnt ist, sosehr auch dieser Austausch für die Liberalität der Stadt wichtig ist, so sehr leidet Berlin an den Besuchermassen und einer Wirtschaft, die sich auf sie ausrichtet. Es geht dabei nicht primär darum, dass Touris in der Schlesischen Straße oder der Weserstraße für überfüllte Bürgersteige, Lärm und Dreck sorgen. Es geht um das Recht der Berliner auf günstigen Wohnraum, Einzelhandel, der auf ihren Bedarf ausgerichtet ist, und eine soziale Infrastruktur, die ihnen uneingeschränkt zur Verfügung steht.

Jedes neue Hotel verengt den Platz für dringend benötigte neue Wohnungen, immer mehr Ferienappartements machen aus Nachbarschaften Attrappen und treiben die Mieten nach oben, immer mehr Souvenirläden und trendige Bars verdrängen Schuster oder Schneidereien. Zumindest in einigen Innenstadtbezirken bedeuten mehr Touristen nur noch einen Verlust der Lebensqualität. Auch für die Touristen wird die Suche nach dem authentischen Berlin zunehmend in die disneyfizierte Hölle führen.

Die Politik reagiert darauf hilflos, etwa indem sie versucht, Gäste verstärkt in die Außenbezirke zu locken. Hier solle das Marketing verstärkt werden, kündigte Visit Berlin an. Doch positive Effekte für die Innenstadt werden ausbleiben, solange weiterhin auf Wachstum gesetzt wird.

Bevor Berlin zur Kulisse verkommt, die nur noch auf die Bedürfnisse der Kurzzeitgäste zugeschnitten ist – wie in Venedig oder Amsterdam schon geschehen –, muss die Notbremse gezogen werden. Ende des Stadtmarketings, Verbot neuer Hotels und Ferienwohnungen, kein weiterer Ausbau der Flugkapazitäten. Das wären Gründe zur Freude.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Erik Peter
Politik | Berlin
Redakteur für parlamentarische und außerparlamentarische Politik in Berlin, für Krawall und Remmidemmi. Schreibt über soziale Bewegungen, Innenpolitik, Stadtentwicklung und alles, was sonst polarisiert. War zu hören im Podcast "Lokalrunde".
Mehr zum Thema

11 Kommentare

 / 
  • 8G
    80576 (Profil gelöscht)

    Wo kann man "das Recht auf günstigen Wohnraum" nachlesen?

  • 8G
    80576 (Profil gelöscht)

    Ohhh, ich möchte bitte in einer hippen, quirlig kosmopolitischen Metropole leben, aber zu Preisen von Hintertupfing, ohne Touristenmassen, Abgase, Verkehr und Lärm. Warum geht das nicht? Blöd!

    • @80576 (Profil gelöscht):

      Also "hip" wollen die meisten, die die Veränderungen in Berlin kritisieren, eben nicht. Sie vermissen die Freiräume, die es Berlin lange gab: Flächen, um was nicht-kommerzielles auf die Beine zu stellen. Mieten, die auch einen anderen Lebensentwurf zulassen. Politisch bewusste Menschen. Gleichgesinnte. Szene. Früstück im Café auch um 21:00. Nix "Metropole" - einfach nur Urbanität.

  • Ein wichtiger Punkt wurde vergessen: Mehr Touristen bedeuten mehr Verkehr und damit mehr Schadstoffe.

    Im Übrigen braucht es natürlich kein verbot, um den Wahnsinn zu stoppen. es genügt, die Marketing-Fans an den Kosten für die Beseitigung der Negativfolgen ihres albernen Balzverhaltens zu beteiligen. Frei nach dem Motto: Wer bestellt, der zahlt auch.

  • Losgelöst vom Tourismus könnte doch die Stadt den sozialen Wohnungsbau vorantreiben, oder?



    Und wo Gewerbe/Hotels oder Wohnbauten gebaut werden sollen, gibt doch auch die Stadt (z.B. mit Flächennutzungsplänen) vor, oder?

    Warum also das Einhacken auf den Tourismus, weil u.a. der Wohnungsmarkt in den letzten 20 Jahren liberalisiert wurde?

  • 8G
    88181 (Profil gelöscht)

    Wer wünscht sich nicht die seligen 90er-Jahre zurück.

    Das ist halt so eine Sache. Man meckert und reist selbst. Ich besuche mindestens einmal im Jahr Paris. Die Situation ist da ja keine andere. Nur dass die schöne Stadt mehrere Gentrifizierungswellen bereits hinter sich hat. Ich reihe mich also in die 14,4 Millionen ein und bin selig.

    Kenne noch viele Orte wo noch nicht so viel los ist und bin dadurch, dass ich sie besuche Pionier einer Veränderung, die nicht gut ist.

    Quoi faire? Alle bleiben zuhause oder alle reisen und fluchen über die Touristen, die in die eigene Stadt kommen.

    In Honkong waren letztes Jahr übrigens 26,6 Millionen Touristen.

  • 8G
    849 (Profil gelöscht)

    Dem Touri-Boom wäre leicht Abhilfe zu schaffen: Kneipen und Clubs wochentags um 23 Uhr schließen, am Wochenende um 1. Ging früher im Westen der Republik schließlich auch. Wer jedoch den totalen Hedonismus will, sagt auch Ja zu den Kollateralschäden.

  • Der Artikel bringt die berliner Kleingeistigkeit und tatsächliche Fremdenfeindlichkeit auf den Punkt.



    Man will alles, aber nie den Preis dafür zahlen. Welthauptstadt, aber mein Kiez gehört mir. Weltoffen, aber über Tourismus meckern. Fremdenfeindlichkeit bei anderen anprangern, aber selbst seine tatsächlich provinzielle Piefigkeit und Anpassungsprobleme reaktionär ausleben. Sich für was besseres halten ohne besser zu sein - so kennt und liebt man die Berliner. Ranzig-nostalgische Prenzelseligkeit und Realitätsverweigerung at its best. Make Berlin great again.

    • 8G
      849 (Profil gelöscht)
      @hup:

      Der Ottonormalberliner hat keine Touris eingeladen, aber er muss unter ihnen leiden.

      Andererseits: den Anstieg der Mieten auf den Tourismus zurückzuführen, scheint mir die wahren Schuldigen zu verschleiern. Wenn man die gestrige Sendung im ZDF für einigermaßen exemplarisch halten kann, ist es vor allem die Gier der Investoren, welche die Menschen aus ihrer vertrauten Umgebung reißt.

  • Aber Berlin betreibt mit dem Bund und Brandenburg schon einen Boykott des Ausbaus der Flugkapazitäten.

    Sry, der muss sein.

  • TU
    Test User , Autor Moderator ,
    Wieder hat es mehr Touristen in die Stadt gezogen. Ein Grund zur Freude ist das nicht. Es ist höchste Zeit die Notbremse zu ziehen und das Stadtmarketing zu beenden. [cms-article=5524809]