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Kommentar BahnstreikHistorische Geschmacklosigkeit

Kommentar von Sebastian Heiser

Wie kommt die GDL dazu, ausgerechnet am 9. November zu streiken? Die CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach ist empört. Zu Unrecht.

Wie passt ein Streik zum würdigen Gedenken an die friedliche Revolution? Bild: dpa

Früher hat die SED die Reisefreiheit eingeschränkt, zum Jubiläum des Mauerfalls beschneidet die GDL die Reisefreiheit!“ Mit diesen Worten kommentiert die CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach den Bahnstreik auf Twitter. Es ist eine historisch geschmackloser Vergleich, denn die GDL schießt nicht auf Streikbrecher. Sie nimmt stattdessen das Streikrecht in Anspruch, das die DDR-Bürger sich durch die friedliche Revolution am 9. November erkämpft haben.

Wenn Frau Steinbach schon an „früher“ erinnert, als es die SED noch gab, dann wird ihr wahrscheinlich auch noch bekannt sein, welcher Tag damals der Nationalfeiertag der BRD war: der 17. Juni. Im Jahr 1953 hatte nämlich die DDR-Führung die Arbeitsnormen für die Werktätigen erhöht: Die Arbeiter sollten für den gleichen Lohn zehn Prozent mehr arbeiten. Die Bauarbeiter an zwei Großbaustellen legten daraufhin die Arbeit nieder. Sie zogen zuerst vor die Zentrale des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, da sie ihre Interessen von der Großgewerkschaft nicht mehr vertreten sahen. Anschließend ging es weiter zum Regierungssitz.

Am nächsten Tag, dem besagten 17. Juni, streikten die Arbeiter auch an hunderten anderen Orten in der DDR. Die DDR-Behörden waren überfordert. Die Sowjetunion erklärte den Ausnahmezustand, 20.000 Soldaten rückten aus ihren Kasernen aus und in die Städte ein, der Protest brach zusammen, es gab Dutzende Tote. In den meisten Betrieben gingen die Beschäftigen wieder zur Arbeit, nur an wenigen Orten dauerten die Streiks noch ein paar Wochen an. Die vermeintlichen Organisatoren der Arbeitsniederlegungen wurden verhaftet und inhaftiert.

Die BRD hatte diesen Aufstand in der DDR zu ihrem Nationalfeiertag erklärt. Einmal pro Jahr legten also alle Beschäftigten in Westdeutschland ihre Arbeit nieder, um daran zu erinnern, wie den Schwestern und Brüdern im Osten das Streik- und Demonstrationsrecht genommen wurde. Die Behörden blieben den ganzen Tag über geschlossen, der Müll wurde nicht abgeholt, die Schule fiel aus, in den Geschäften blieben die Türen zu. Und so ging das jedes Jahr, 37 Jahre lang. Keine Gewerkschaft in der deutschen Geschichte hat jemals für einen solchen Ausstand gesorgt wie die Bundesregierung mit der Ausrufung des 17. Juni zum Nationalfeiertag.

Streikrecht im Unrechtsstaat

Auch in der Debatte, ob die DDR ein Unrechtsstaat war, wird auf den 17. Juni 1953 verwiesen. Der DDR-Bürgerrechtler und spätere CDU-Bundestagsabgeordnete Rainer Eppelmann sagte in einem Interview: „So ist das in der Verfassung verbürgte Streikrecht am 17. Juni vor aller Welt gebrochen worden. (...) Dazu fällt mir zutreffend kein anderer Begriff als Unrechtsstaat ein.“

Erst mit der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung können die Ostdeutschen wieder streiken, ohne Schikanen oder Haft fürchten zu müssen. Im Grundgesetz wird das Recht, Gewerkschaften zu gründen und „Arbeitskämpfe“ auszutragen, in Artikel 9 garantiert. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) möchte den Umfang dieses Rechts nun einschränken.

In der DDR-Verfassung stand: „Das Streikrecht der Gewerkschaften ist gewährleistet.“ Die Arbeitsniederlegung vom 17. Juni war nach DDR-Recht illegal, da sie von keiner der Gewerkschaften organisiert wurde. Wenn Nahles sich mit ihrem Vorschlag durchsetzt, wird das Streikrecht sinngemäß lauten: „Das Streikrecht ist nur noch für die größte Gewerkschaft im Betrieb gewährleistet.“

Das Streikrecht in der BRD wäre dann also noch restriktiver als in der DDR – allerdings ist auch dieser Vergleich historisch geschmacklos. Denn im Sozialismus wurde abweichendes Verhalten mit Repression bestraft, mit Polizisten und Soldaten. Das muss in der BRD zum Glück niemand fürchten. Der Neoliberalismus hat eine wesentlich humanere, deutlich kostengünstigre und mindestens genauso effektive Möglichkeit gefunden, abweichendes Verhalten zu bestrafen: finanzielle Sanktionen. Wer illegal streikt, wird fristlos entlassen. Und weil dies als selbstverschuldet gilt, zahlt der Staat anschließend drei Monate lang keinerlei Arbeitslosengeld.

Das Recht auf Streik jedenfalls ist in beiden Fällen nicht gewährleistet – egal ob jemand aus Angst vor dem Gefängnis oder aus Angst vor Armut darauf verzichtet. Doch das muss nicht so bleiben, wie die deutsche Geschichte zeigt. Rechte lassen sich erkämpfen. Wenn genug Leute mitmachen, dann kann der Druck der Straße sogar einen ganzen Staat umstürzen. Man kommt nicht im Schlafwagen zu mehr Macht. Es gibt keinen besseren Tag als den 9. November, um daran zu erinnern. Danke, GDL!

PS: Liebe Erika Steinbach, das Wort „Reisefreiheit“ meint übrigens die Freiheit, selbst reisen zu dürfen. Es bedeutet nicht, dass Sie andere Leute zwingen dürfen, Sie zu befördern.

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30 Kommentare

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  • Stimmt! Am 17. Juni 1953 kam es in der real existierenden DDR zu einem Arbeiteraufstand gegen die vom SED-Politbüro bzw. von der DDR-Regierung diktierten Arbeitsnormen! Gegen nicht mehr länger hinnehmbare, menschenunwürdige Arbeitsbedingungen und Arbeitsentlohnungen für die hart arbeitende, hart aufbauende Bevölkerung der Arbeiter und Bauern in der DDR nach 8 Jahren Ende des Zweiten Weltkrieges. Durch freies Hin-und-Her-Reisen zwischen der DDR und der BRD konnten die Arbeiter und Bauern der DDR die neuen Arbeitsbedingungen und neuen Lebensverhältnisse in beiden deutschen Staaten nämlich vergleichen - und lehnten sich in der DDR dagegen auf! In der BRD gab es keinen Aufstand, weil die Arbeitsbedingungen und Arbeitsentlohnungen besser und humaner waren.

  • Das verbreitete Wort "Unrechtsstaat" verharmlost eine real existierende Diktatur! Die DDR war eine real existierende Diktatur.

    Vor dem Berliner Mauerfall wurde die DDR viel zutreffender als "real existierende sozialistische Diktatur" bezeichnet. Das war einmal überwiegend Konsens in der BRD und im westeuropäischen Ausland. Sebastian Heiser wird sich sicherlich an diese Zeit erinnern können; denn er ist älter, wissender mit mehr Lebens- und Berufserfahrung, gerade als Journalist. Das würdige ich.

     

    In einem Rechtsstaat wie der BRD wird auch oftmals "Unrecht" gesprochen. Es werden bekanntlich "gerechte" und "ungerechte" Urteile seitens der unabhängigen Gerichte gesprochen.

     

    Warten wir ab, wie beispielsweise der NSU-Prozeß in der BRD ausgehen wird und ob im Laufe dieses Prozesses "gerechte" oder auch "ungerechte" Gerichtsurteile gefällt werden.

    Oder, ebenso aktuell, wie der NSA-Untersuchungsausschuß des Bundesparlamentes einmal ausgehen wird. Wird es "gerechte" oder "ungerechte" Ergebnisse dieser Untersuchung geben? Zu welchem Urteil oder Abschluß wird der deutsche NSA-Untersuchungsausschuß einmal kommen?

  • Blockflötenpartei CDU - natürlich ist die gegen jegliche Ausübung des Streikrechts.

     

    Danke an alle GroKo-Wähler für eure famose, wahrhaft demokratische Wahlentscheidung.

     

    Und ich finde es seit 24 Jahren auch zum Kotzen, ausgerechnet den Verwaltungsakt-Tag 3.Oktober als Nationalfeiertag vor den Latz geknallt bekommen zu haben.

     

    Aber die glorreichen Entscheider von damals hatten wahrscheinlich vorsorglich Schiss davor, dass dereinst sich die bundesdeutschen Arbeitnehmer ein Beispiel an den Streikenden des 17.Juni 53 nehmen könnten, und sich gegen die glorreichen Auswirkungen der marktkonformen Demokratie erheben könnten.

  • Die geistige Qualität von Wählern die eine Partei wählen, in der geistig nicht unerheblich Beschädigte solches Zeugs von sich geben, spricht für sich.

    „Früher hat die SED die Reisefreiheit eingeschränkt, zum Jubiläum des Mauerfalls beschneidet die GDL die Reisefreiheit!“

    • D
      D.J.
      @H-G.-S:

      Stimmt schon, aber ähnlich dämliche DDR-Vergleiche oder gar -gleichsetzungen kommen auch gern von der anderen Seite des pol. Spektrums.

  • "Denn im Sozialismus wurde abweichendes Verhalten mit Repression bestraft, mit Polizisten und Soldaten. Das muss in der BRD zum Glück niemand fürchten."

     

    Noch nicht. Lassen Sie mal Zehntausend Arbeiter in unbefristeten Streik treten, ohne Gewerkschaft. Lassen Sie diese Zehntausend das Betriebsgelände eines Konzerns besetzen mit der Ankündigung, den Zustand nur zu beenden, wenn der Konzernvorstand geschlossen zurücktritt. Dann werden Sie sehen.

    • @Dudel Karl:

      Sollte wirklich mit Gewalt gegen Streikende vorgegangen werden, dann werden sich unsere Kommunisten wieder ganz wie zu hause fühlen.

    • @Dudel Karl:

      Ähm, wo wäre da das Problem?

      • @Trango:

        ..möglich würds wieder gerechter werden,

        naja, das int. schweinekapital würds wohl verhindern...

  • die unglaubliche macht jener medien und sie stellen die manipulative mehrheit dar, vertreten grundsätzlich, mehr, weniger subtil, die interessen des dreckskapitals.

    klar, dass ihnen ein solidarischer streik nicht ins konzept passt. die rechte der streikenden sind ihnen völlig gleichgültig.das thema ebenso. sie erdreisten sich tatsächlich nun stimmung per haarsträubender aussagen zu diskreditieren, rufmörderisch zu sein. unfassbar.

    viel glück der gdl für ihre mühe !

  • Nee ...vorher abtreiben...

  • Applaus, Herr Heiser

  • Hut ab, Herr Heiser, für diesen Kommentar!

  • Mal ein richtig guter Kommentar!

    Bravo und Danke!

    • @Bernhard Meyer:

      dito:anschliess

  • Wie kann sich jemand dessen Eltern in Nazizeiten als Neojunker aus Hamburg in den Osten siedelten, anno 45 gerade mal entwöhnt war, als Vertriebene generieren.So etwas ist nicht zu verstehen. Zumal es Vertriebene gibt die Jahrhunderte mit der Heimat im Osten verbunden waren. Für Frau Steinbach trifft die Bezeichnung Vertriebene nicht zu. Eine Frau die sich zum eigenen Vorteil in die Vertriebenenverbände eingeschlichen hat. Es bleibt, von Vertreibung und vom 17.Juni Gewerkschaftsgeschichte keine Ahnung.

    • @conny loggo:

      Endlich fällt das auch anderen einmal auf, das diese NAZI-TANTE zu den schamlosesten Geschichtsverklärern gehört und in der NPD besser aufgehoben wäre, wobei, ganz falsch ist sie in der CDU ja dann auch nicht, nimmt man einmal die ganzen Altnazis in der Partei als Maß. Deren Eltern haben die ursprünglichen Bewohner vertrieben, und nicht anders herum!!! Wie kann man, von etwas wo man nichts zu suchen hat vertrieben werden??? Die, und der Rest der Pseudovertriebenen in 3.Generation, sollten der ANTIFA weiterhin weit aus dem Weg gehen und ihren verlogenen verbrecherischen Schacht zumachen.

  • Diese Berufsnichtvertriebene - nunja

     

    aber - Wowie haute doch gestern

    Salbadersalbader in die

    gleiche Kerbe -

     

    und das ist auch -

    Gar nicht gut so;-((

  • 9G
    970 (Profil gelöscht)

    Ah, die alte Na...rzisstin Steinbach. Macht den Mund auch nur auf, wenn's bei den Trotteln ankommen könnte... wenn man die Frau so anschaut, würd' man sich wünschen, dass die Spätvertriebenen ihre Heimat wiederbekommen. Ganz ganz weit weg von mir, ganz ganz weit weg aber auch von allen anderen Menschen mit Verstand.

    • @970 (Profil gelöscht):

      Es steht dir völlig frei dieses Land zu verlassen.

      • 9G
        970 (Profil gelöscht)
        @DD:

        Den Gefallen werd' ich euch ganz bestimmt nicht tun!

    • @970 (Profil gelöscht):

      Ein widerliches Vehikel, in der Tat. Wie bescheuert müssen jene sein, die die alten Ostgebiete zurückwollen? Mir reicht die DDR schon dicke.

      • @Dudel Karl:

        Und wieder einmal "kreinert" Hans Peterchen seine Hassbotschaften ins Netz - heute trifft es halt die Vertriebenen. So what.

        • @Heinz Günter Gruse:

          Er hat halt Spaß daran.

           

          Gönnen wir es ihm doch. Viellicht hat er im realem Leben nicht so viel Freude. Ein schlecht bezahlter Job, prekäre Arbeitsverhältnisse, irgendwo muss der Frust ja bleiben.

  • "Erst mit der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung können die Ostdeutschen wieder streiken, ohne Schikanen oder Haft fürchten zu müssen." Na Herr Heiser, ob sie da richtig liegen? Die Art und Weise, wie einige der Medien diesen Streik in den Dreck ziehen, ist doch anscheinend viel "eleganter" als mit Soldaten und Panzern vorzugehen. In der Beziehung war der Osten dem Westen immer hinterher. Manchmal tut ein Schlag ins Gesicht weniger weh, als durch eine Medienkampange fertig gemacht zu werden! Es ist nur widerlich, wie Focus, Bild und andere Medien den Mob gegen die GDL aufhetzen.

    • @Julianne:

      " Es ist nur widerlich, wie Focus, Bild und andere Medien den Mob gegen die GDL aufhetzen."

      Sie haben hier noch die frühere Arbeiterpartei SPD vergessen .

      • @APOKALYPTIKER:

        So siehts aus!!!

  • Die mittlerweile entstandene Situation lässt befürchten, dass Frau Steinbachs Äußerungen von einem Großteil der Bevölkerung unterstützt werden. Die massive Volksverdummung durch große Teile der Politik und der Medien trägt jetzt ihre Früchte. Wie lange wird es noch dauern, bis die Mehrzahl der deutschen Michel die Wiedereinführung der Leibeigenschaft fordert (und zwar für sich selbst)? Das würde doch die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands innerhalb der globalen Märkte nachhaltig steigern.

  • Sehr gut!

  • Gut gegeben, Herr Heiser. [...]

     

    Die Moderation: Kommentar gekürzt.