Kommentar Aktive Sterbehilfe: Würde und Wahlfreiheit
Aktive Sterbehilfe verleitet nicht zu Fahrlässigkeit. Sie gibt aber die Chance, den eigenen Todeszeitpunkt selbst zu bestimmen.
I n zwei scheinbar einfachen Sätzen über das Ende des Lebens stecken sowohl Sprengkraft als auch ein großes Dilemma. Zwei Sätze, die Mitte dieser Woche fielen, als das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe über eine brisante Frage verhandelte: Soll Sterbehilfe in Deutschland erlaubt sein oder nicht? Den einen Satz sagte der Stuttgarter Palliativmediziner Dietmar Beck: „Ich wünsche mir die Freiheit, eine tödliche Spritze zu geben, wenn jemand, der todkrank ist, darum bittet.“ Den anderen Satz sagte Winfried Hardinghaus vom Deutschen Hospiz- und Palliativverband: „Leiden gehört immer zum Tod dazu.“
Im Gegensatz zu Ländern wie der Schweiz, Belgien und den Niederlanden, wo aktive Sterbehilfe möglich ist, steht sie in Deutschland seit drei Jahren unter Strafe. Der damalige CDU-Gesundheitsminister Hermann Gröhe hat das Verbot seinerzeit mit dem Strafparagrafen 217 durchgesetzt.
Dagegen klagen nun Schwerkranke, Ärzt*innen und Sterbehilfevereine. Der Palliativmediziner Beck ist einer von ihnen. In der Verhandlung erzählte er von einer schwer kranken 80-Jährigen, der im Krankenhaus der selbstbestimmte Tod mithilfe einer Spitze verweigert wurde. Stattdessen wurde ihr das sogenannte Sterbefasten ermöglicht. Dabei verzichten die Betroffenen auf Essen und Trinken – bis sie tot sind.
Wer schon einmal einen Menschen auf diese Weise hat sterben – und leiden – sehen, fragt sich ernsthaft, warum das als menschenwürdig gilt. Und wer bereits selbst auf die Zufuhr von Flüssigkeit und Nahrung verzichten musste – jenseits des allseits beliebter werdenden Heilfastens –, bekommt möglicherweise eine Ahnung davon, wie qualvoll das ist. Der Sterbeprozess der 80-Jährigen, von der Beck dem Verfassungsgericht berichtete, dauerte etwa drei Monate.
Medizin kann Leben nicht unendlich machen
Möglich, dass Leiden zum Tod dazugehört. Doch die wenigsten Menschen sterben im Schlaf, jedes Jahr erleiden 120.000 Menschen in Deutschland den plötzlichen, nur kurz schmerzhaften Herztod. Bei fast 950.000 Toten im Jahr ist das eine zu vernachlässigende Zahl. Die meisten Sterbenden werden mehr oder weniger leiden. Aber muss das denn sein? Muss jemand mit einer unheilbaren Lungenkrankheit tatsächlich unter Qualen ersticken? Warum nimmt man einem alten Menschen, der lieber eher als später sterben will, die letzte Würde, indem man ihn „zu Tode pflegt“?
Pflege ist eine – für alle Seiten – in der Regel harte wie würdelose Angelegenheit: Da wird gefüttert, gesabbert und gekotzt, eingepinkelt, eingeschissen und geblutet. Da wird herumgelegen und gejammert vor Schmerzen. Den Satz „Ich möchte sterben“ hört das Pflegepersonal jeden Tag.
Dem medizinischen Fortschritt ist es zu verdanken, dass Brustkrebs in vielen Fällen heilbar ist, antiretrovirale Therapien verlängern das Leben HIV-Positiver um ein Vielfaches, an Masern muss niemand mehr sterben, der geimpft ist. Das Leben unendlich machen, das kann Medizin allerdings nicht, das wird sie nie können.
Selbstbestimmung ist angeblich hohes Gut
Aber sie kann dafür sorgen, dass das Lebensende von Menschen so schmerzfrei und so würdevoll wie möglich vonstattengeht. Warum nicht mit Hilfe Dritter? Laut einer Forsa-Umfrage entspricht das dem Willen von 70 Prozent der Menschen in Deutschland.
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Der Erfahrung von Mediziner*innen aus Ländern mit legaler Sterbehilfe zufolge sinkt die Selbsttötungsrate, sie steigt nicht, wie hierzulande von manchen befürchtet wird. Und niemand, schon gar nicht Mediziner*innen, Pfleger*innen und Angehörige werden „einfach so töten“, wie Ärztekammerpräsident Frank Ulrich Montgommery behauptet.
Erwiesen ist auch, dass sich Menschen besser fühlen, wenn sie, statt zu einem Sterbehilfeverein in die Schweiz reisen zu müssen und so den eigenen Tod unmittelbar vor Augen zu haben, ihren Todeszeitpunkt durch eine Spitze selbst bestimmen und auch wieder verschieben zu können.
Wir leben in einer Zeit, in der angeblich Selbstbestimmung und Wahlfreiheit hohe Güter sind. Politiker*innen und Verfassungsgericht können jetzt zeigen, wie ernst es ihnen damit ist.
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