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Kommentar 100 Tage Schwarz-GelbTraumpaar im Blindflug

Ines Pohl
Kommentar von Ines Pohl

Eine Großpanne jagt die nächste. Und: Wer sich nur um die Vorteile einiger weniger kümmert, kann keine vernünftige Wirtschaftspolitik für ein so komplexes Land wie Deutschland entwickeln.

Vielen galt sie als das Traumpaar, die Regierungskoalition, die so gut zusammenpasst, dass sie in diesen undurchsichtigen Zeiten als Einzige in der Lage ist, den Durchblick zu behalten. Mit Angela Merkel und Guido Westerwelle an der Spitze sollte Schluss sein mit dem ewigen Rumeiern und den faulen Kompromissen. Zwei Parteichefs, eine Grundidee. Die Hoffnung auf einen Neuanfang war groß. Doch spätestens im Koalitionsvertrag wurde klar: Keiner von beiden hat eine gesellschaftliche Vision, keiner eine Idee, wie das Exportland Deutschland zukunftsfähig gemacht werden kann. Eine Großpanne jagte die nächste, und angesichts des frühen Ministerrücktritts von Franz Josef Jung erscheint der rot-grüne Regierungsstart 1998 im Vergleich fast schon elegant.

Der konservative Flügel der Union muss sich eingestehen, dass es naiv war zu glauben, ein FDP-Mann könne den für viele zu sozialdemokratischen Modernisierungskurs der Parteichefin wieder auf den rechten Weg führen. Mit jedem Tag, den die Koalition länger im Amt ist, wird deutlicher: Neoliberalismus und Konservatismus sind zwei Haltungen, die heute nicht mehr unbedingt kompatibel sind. Wer sich nur um die Vorteile einiger weniger kümmert, kann keine vernünftige Wirtschaftspolitik für ein so komplexes Land wie Deutschland entwickeln. Statt über Mindestlöhne zu diskutieren, wird über Steuersenkungen gestritten, statt auf die veränderten weltweiten Machtkonstellationen zu reagieren, werden nationale Interessengruppen bedient. Gut möglich, dass Union und FDP 2005 für ihre Wählerschaft erfolgreiche Politik hätten machen können, damals, als der Zeitgeist noch auf ihrer Seite war und die Schröder-SPD ihnen den Weg bereitet hatte. Angesichts der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise zeigt sich aber, dass mit einer derart auf die Reichen fixierten Partei wie der FDP keine Lösungen für eine auseinanderdriftende Gesellschaft zu finden sind.

Machtstrategisch agiert die Kanzlerin sehr geschickt, aber in wichtigen Fragen verweigert sie weiter klare Positionen. Weder werden bei der Finanzmarktregulierung Pflöcke eingeschlagen, noch wird auch nur der Versuch unternommen, eine angemessene Sozial- und Bildungspolitik oder eine zukunftsfähige Energiepolitik zu entwickeln. Zu glauben, dass Nichtstun ausreicht, um keine Fehler zu machen, ist fahrlässig - zumindest wenn man eine Volkspartei sein möchte.

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Ines Pohl
Ines Pohl (Jahrgang 1967) war von Juli 2009 bis Juni 2015 Chefredakteurin der taz. Bevor sie als politische Korrespondentin für die Mediengruppe Ippen in Berlin arbeitete, leitete sie das politische Ressort der Hessischen /Niedersächsischen Allgemeinen. 2004/2005 war sie als Stipendiatin der Nieman Foundation for Journalism für ein Jahr an der Harvard University. Im Dezember 2009 wurde ihr der Medienpreis „Newcomerin des Jahres“ vom Medium-Magazin verliehen. Seit 2010 ist Ines Pohl Mitglied im Kuratorium der NGO „Reporter ohne Grenzen“. Außerdem ist sie Herausgeberin der Bücher: " 50 einfache Dinge, die Sie tun können, um die Gesellschaft zu verändern" und "Schluss mit Lobbyismus! 50 einfache Fragen, auf die es nur eine Antwort gibt" (Westend-Verlag)
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4 Kommentare

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  • Z
    Zampano

    Es besteht auch die Möglichkeit, dass sich die Regierung bis nach der NRW-Wahl bewußt durchwurstelt. Um dann noch massiver die neoliberal-klare Kannte zu zeigen. (Um einen in Neoliberalismus besten sich auskennenden Sozialdemokraten frei zu zitieren).

    Und die Sozialsysteme dieser Republik werden bis zur Unkenntlichkeit Um(also ab-) gebaut, zum Wohle aller Freunde und Gönner von CDU und FDP in den großen (Versicherungs-)Konzernen und reichen Familien.

  • F
    FanvonSchumpeter

    Guter Artikel Frau Pohls.

    Dass der Neoliberalismus, eine Wirtschaftspolitik ala M. Friedman und eine damit einhergehende niedrige Staatsquote Wege wären, eine möglichst effiziente Wirtschaftspolitik zu betreiben, ist die grösste Lüge des 20. Jahrhunderts und des beginnenden 21. Jahrhunderts.

    Großbritannien war bis zum Beginn des 2. Weltkrieges hinsichtlich der industriellen Produktion mindestens in Augenhöhe des grösseren, bevölkerungsreicheren Deutschland(z.b. war allein die britische Flugzeugproduktion doppelt so hoch wie deutsche).

    Nach den 2. Weltkrieg war die britische Wirtschaft der deutschen überlegen. Das Land war bis zum Antritt der neoliberalen Frau Thatcher in Besitz großer und moderner Produktionsanlagen. Ruhmreiche Namen standen für britische Ingenieurskunst:

    -Vickers

    -Vauxhall Motors(mit lächerlichen 2900 Mitarbeiten im Jahre 2006)

    -Royal Aircraft Establishment

    -Royal Arsenal

    -Royal Small Arms Factory

    -Alvis Cars

    -Armstrong Whitworth Aircraft

    -Birmingham Small Arms Company

    -Norton

    -Villiers Ltd

    -John Readhead and Sons

    usw.

     

    Jetzt -im Jahre 2010- hat Großbritannien ausser BAE nur noch ein Paar Banker in ihren Londoner Türmen.

    Allein erzeugen Banker keinen materiellen volkswirtschaftlichen Mehrwert.

    Es gibt sogar eine Studie, die besagt, dass im Gegensatz zur einer Reinigungskraft, die der Gesellschaft pro verdienten Pfund einen Mehrwert von circa 10 Euro hinzu führe, der Banker der Gesellschaft pro verdienten Pfund Schäden in Höhe von 7 Pfund erzeuge.

  • RK
    Rüdiger Kalupner

    Könnte es sein, verehrte taz-Redaktion, dass Angela Merkel 'vom dicken Ende' der 5%Wachstumsabsturzkrise her denkt, d.h. dass sie vom anstehenden Epochenwechsel in die folgende, post-kapitalistische Weltordnung des KREATIVEN ausgeht, dass sie deshalb auch keinerlei Rettungsversuche für das alte Wachstumzwang-Regime der KAPITALSTOCKMAXIMIERER mehr unternimmt, dass sie die 'Wettte auf Wachstum' nur im Blick auf den Tag X eingegangen ist, an dem die Medienmauer fällt und eine Steuer- und Steuerungssystemrevolution als evolutionsprozess-logischer und einziger Weg aus der Krise eingeleitet wird?

     

    Es ist schon sonderbar, dass niemand ihr diese GROSSE POLITIK bislang zutraut, obwohl nichts logischer als diese ist. Auch die taz-Redaktion tut sich offensichtlich sehr schwer mit der vorrevolutionären Realität.

  • W
    WaltaKa

    Spricht aus Ihnen die enttäuschte FDP-Wählerin, Frau Pohl?

    Was war zu erwarten? Diese Regierung funktioniert- lediglich anders, als es sich manche Wähler, egal aus welcher beruflichen oder sozialen Schicht(gerade auch aus den Normalo-Schichten) gedacht haben. Sogar Hartz-4-Empfänger haben FDP gewählt.

    Das Staunen nun ist groß, die Regierung aber liegt im Plan. Anders, wie gesagt, als von vielen gedacht. Im Neoliberalismus geht es nicht um das Wohl eines Staates im Sinne des Wohles aller seiner Staatsangehörigen. Es geht (plump geschrieben) um die Erhöhung des Einflusses und des Wohlstandes derer, die in diesem Staate 'oben' sind. Diese Ober-Klasse benützt den Staat nur noch zur Erfüllung ihrer eigenen Bedürfnisse. Das Ergebnis einer solchen Politik ist in den USA zu betrachten. Nach der Umsetzung der Politik Reagans und Bushs sind wenige immer reicher geworden, die Masse der Menschen verarmt zusehends und der Staat ist ruiniert.

    Diese Regierung führt fort, was unter Kohl begonnen, unter der SPD/Grünen-Regierung mit den Kumpels Schröder und Fischer massiv beschleunigt wurde: den neoliberalen Umbau des Staates. Diese Regierung bastelt daran in einem atemberaubenden Tempo. Was uns verstört, gewisse Unstimmigkeiten, ändert nichts an der Grundausrichtung. In einigen Jahren ist dieses Land ein anderes.

    Nein, Frau Pohl, kein Blindflug, diese Regierung ist leider im 'Soll'. Das schlimmste aber, ausser der kleinen Partei der 'Linken' gibt es keinen wirklichen politischen Gegenentwurf. SPD und Grüne sind längst neoliberale Mitte. In der Özdemir'schen "Realität" angekommen.