Kolumne Zwischen Menschen: Die Geschichte der „St. Louis“
Seitdem so viele Flüchtlingsboote auf dem Meer umherirren und nicht anlegen dürfen, muss ich immer wieder an die „St. Louis“ denken. Und an ihren Kapitän.
M enschen winken, voller Vorfreude auf die weite Welt. Sie stehen auf einem Kreuzfahrtschiff, das gerade aus Hamburg ausläuft. Ich stelle mir vor, wie hier die Elbe entlang auch die „St. Louis“ fuhr. Auch sie war ein Kreuzfahrtschiff mit einem fernen Ziel – Havanna. Doch ihre Passagiere waren Flüchtlinge. Sie verließen ihre Heimat, um nicht ermordet zu werden.
Ich laufe hinauf nach Othmarschen, zum früheren Haus des Kapitäns, der die „St. Louis“ steuerte. Seine Geschichte erscheint mir wichtig in diesen Tagen. Seitdem so viele Flüchtlingsboote auf dem Meer umherirren und nicht an Land dürfen, muss ich immer wieder an die „St. Louis“ denken. Und an ihren Kapitän:
„Er war eher so ein leiser Mensch“, sagt sein Großneffe Jürgen Glaevecke. Im Zimmer, wo er alle Dinge seines Großonkels aufbewahrt, legt er mir ein Modellschiff in die Hand. „Das ist die ,St. Louis'“, sagt er. „Das Schiff der Heimatlosen auf hoher See“, wie Kapitän Gustav Schröder sie in seinen Memoiren nannte.
1939, ein halbes Jahr nach der Pogromnacht, fuhr Schröder mit neunhundert Juden an Bord nach Kuba. Für viele war es die letzte Chance zur Flucht vor dem Konzentrationslager. Schröder war in der NSDAP. Aber er beauftragte die Besatzung, die Juden wie alle Gäste bei einer Kreuzfahrt zu behandeln. Die Flüchtlinge schwammen im Pool. Die Stimmung war gut.
Christa Pfafferott ist Autorin und Dokumentarfilmerin. Sie hat über Machtverhältnisse in einer forensischen Psychiatrie promoviert. Als Autorin beschäftigt sie sich vor allem damit, Unbemerktes mit Worten sichtbar zu machen.
Doch als sie Kuba erreichten, durfte die „St. Louis“ nicht anlegen. Dabei hatten die Passagiere zuvor 500 Reichsmark für ein kubanisches Visum bezahlt. „Innenpolitische Störungen“, hieß es. Fünf Tage lag das Schiff vor Land. Schröder verhandelte mit der Regierung, ohne Erfolg. Ein Passagier unternahm einen Suizidversuch. Schließlich erhielt Schröder den Befehl, den Hafen zu verlassen, ansonsten werde das Schiff mit Gewalt hinausgetrieben.
„Kapitän, wohin fahren Sie uns?“, fragten ihn die Menschen. Er konnte keine Antwort geben. Das erste Mal in seinem Leben fuhr Schröder ohne Ziel. Die Passagiere hatten Todesangst: „Lieber springen wir ins Meer, als dass wir ins KZ zurückgehen“, sagte eine Dame zu ihm.
Eigenmächtig steuerte er die USA an, Florida Beach. Doch auch dort durfte er nicht anlegen. Er schrieb an Präsident Roosevelt. Aber es war Wahlkampf und die Arbeitslosigkeit hoch. Die Menschen hatten Angst, dass die Migranten ihnen ihre Jobs wegnehmen. Auch Kanada lehnte ab. Die europäischen Länder verwiesen auf Aufteilungsquoten. Niemand nahm sie auf.
Die Parallelen zum Heute, die ich hier in Schröders Zimmer höre, sind fast unheimlich. Weltweit wurde damals die Presse auf die Irrfahrt des Flüchtlingsschiffes aufmerksam. Alle wussten Bescheid, aber keiner griff ein.
Nach fünf Wochen wurden Proviant und Öl knapp
Schröder ließ Wachen aufstellen, damit die Menschen nicht ins Meer sprangen. Er gründete ein jüdisches Bordkomitee, hielt Vollversammlungen ab. Er musste Trost sprechen. Doch auch er war deprimiert.
Nach fast fünf Wochen wurden Proviant und Öl knapp. Schließlich kam von der Reederei Hapag die Anweisung umzukehren. „Bestimmungsort: Cuxhaven.“ Von dort fuhr ein Gestapo-Boot den Flüchtlingen entgegen, um sie abzufangen. Schröder war aber entschlossen, „dorthin nicht zurückzukehren“. Er wollte die Passagiere an der englischen Küste nachts illegal an Land lassen. Doch soweit kam es nicht. Inzwischen hatte das jüdische Hilfskomitee einen Hafen für die Passagiere verhandelt: Antwerpen. Dort wurden sie auf Frankreich, Großbritannien, Belgien und die Niederlande aufgeteilt. Ihre Dankbarkeit „war rührend und bewegte mich tief und unvergesslich“, schrieb Schröder. Umso mehr betrauerte er, dass fast ein Drittel der Passagiere später im Holocaust starb.
„Was ließ ihn so handeln?“, frage ich seinen Großneffen. Er hebt die Hände in die Höhe. „Gerechtigkeit“, sagt er. „Dass Menschen die gleichen Chancen haben. Nicht nur immer ich.“ Schröder hat nicht viel Aufhebens um seinen Mut gemacht. Doch er endet seine Memoiren eindringlich: „Dass das Schicksal dieses Emigrantenschiffs als Mahnung gesehen werden sollte: Damit sich Grausamkeit und Unmenschlichkeit, wo es auch immer sei, nie wieder breit machen können.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“