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Kolumne WutbürgerEin Platz hinter dem Mond

Kai Schächtele
Kolumne
von Kai Schächtele

Menschen mit Sitzplatzreservierungen planen auch ihren Geschlechtsakt. Doch aufregen hilft nicht, in der Vertreibung liegt auch eine Chance.

Entschuldigung, das ist doch Wagen 23, Platz 66? Bild: dpa

R eisen ist der Ausbruch aus der Banalität des Alltags. Der Aufbruch in die Ferne, in der man den süßen Duft der Freiheit atmet. Der Moment, in dem man sich von den Normen löst, die uns die meiste Zeit über einzwängen wie ein Korsett. Es sei denn, man trifft auf Menschen, die über eine Platzreservierung verfügen.

Dann nämlich passiert dies: Ein überfüllter Zug. Passagiere zwängen sich wie Herdentiere durch die Gänge, immer in der Hoffnung, nicht versehentlich für einen Koffer gehalten zu werden, der in der Gepäckablage landet. Wenn Sie mich bitte durchlassen könnten. Moment, Sie sehen doch, dass ich nicht weiterkomme. Ist das eng hier! Entschuldigung, ist das Ihr Knie?

Und irgendwann, wenn sich alles zurechtgeruckelt hat, jeder sitzt, wo ihn das Leben hingespült hat, kommt immer einer und sagt: Entschuldigung, Sie sitzen auf meinem Platz. Das ist doch Wagen 23, Platz 66?

Ich verstehe natürlich, dass sich eine vierköpfige Familie ungern über einen ICE verteilen möchte. Aber Menschen, die allein reisen und sich vorher am Schalter eine Sitzplatzreservierung besorgt haben, verhalten sich wie Leute, die auch den Termin für den nächsten Geschlechtsakt in ihren Kalender eintragen. Sie wollen Planungssicherheit. Immer.

taz.am Wochenende

Tebartz-van Elst, Brüderle, Guttenberg. Darüber regen wir uns auf. Aber warum? Und was bringt das? Den großen Empörungsvergleich lesen Sie in der taz.am wochenende vom 9./10. November 2013 . Darin außerdem: Christian Ströbele ist nun weltbekannt als „der Mann, der Edward Snowden traf“. Aber wie hilft das der Sache des Whistleblowers? Und ein Gespräch über den Glanz im Schund, echte Adelige und Sexwestern: Mit Anna Basener, einer der jüngsten Groschenromanautorinnen Deutschlands. Am eKiosk, Kiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Doch so läuft das nicht, Freunde des Zug- und Geschlechtsverkehrs. Macht die Chance des Augenblicks zu eurem Verbündeten und behandelt sie nicht wie einen Aussätzigen. Nur dann ist möglich, was mir neulich passierte, nachdem ich auf dem Weg nach Köln meinen Sitzplatz hatte räumen müssen. Weil wirklich jeder Platz in der zweiten Klasse samt Bordrestaurant besetzt war, öffnete mir eine reizende Schaffnerin die erste Klasse. So landete ich an einem Tisch mit Beinfreiheit bis Südspanien. Mir gegenüber eine schöne Frau. Versonnen blickte ich aus dem Fenster und stellte mir dabei vor, wie auf Platz 66 und 68 in Wagen 23 im Takt des Zuges die Knie gegeneinander stießen.

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Kai Schächtele
Journalist
Journalist, Buchautor, Moderator. Ärgert sich gern über Dinge, über die er sich gern lustig macht. Arbeitet außerdem als Dozent, weil man sich ja nicht immer nur ärgern kann, sondern auch den Jüngeren erklären muss, warum Journalismus immer noch der schönste Beruf von allen ist.
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21 Kommentare

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  • 6G
    688 (Profil gelöscht)

    Glaubst du eigentlich du bist ein auch Whistleblower, also ein Surfer auf dem Zeitgeist (Wutbürger), ein Teil der KONFUSIONIERUNG in Überproduktion von KOMMUNIKATIONSMÜLL, womöglich ein Satiriker - die systemrationale Dummheit hat im "freiheitlichen" Wettbewerb um ... immer auch eine "Sitzplatzreservierung", manchmal sogar basierend auf ein Erbrecht!?

    • Kai Schächtele , Autor des Artikels, Journalist
      @688 (Profil gelöscht):

      Nö.

      • 6G
        688 (Profil gelöscht)
        @Kai Schächtele:

        Danke für die absolut klärende Antwort ;-)

  • Ich fahre immer in der ersten Klasse. Und dort halte ich beim Lesen immer die taz hoch.

  • A
    Arne

    Ja, genau. Was fahren Geh- oder anderwertig Behinderte auch Bahn? Eine Frechheit ist das! Ein gehbehinderter Mensch kann sich ruhig mal sein lädiertes Knie noch weiter verrenken lassen in einem vollen ICE anstatt auf den Platz zu sitzen, den er für sich reserviert hat. Und tatsächlich, es gibt sogar Behinderungen, bei denen es sinnvoll sein kann, seinen GV mal vorab zu planen.

    Welch entwürdigendes Leben solche Behinderten nach Auffassung des Autors wohl führen müssen. Behinderte sollen nicht Bahn fahren und auch nicht kopulieren. Man denke an die Eugenik!!!

    Letztendlich ist es doch schuld dieser Menschen, dass die Deutche Bahn AG die Sitzplätze für diese Menschen nicht schon von außen an den Wagen so ausschildert, dass jeder ohne Gedränge seinen Platz finden kann. Dass die Züge fast dauernd in "geänderter Wagenreihung" anfahren ohne dass man weiß, wie diese geänderte Wagenreihung aussieht (Wenn ein Zugfahrer es mal tatsächlich hinbekommt, so zu halten, wie es der Wagenstandsanzeiger vorsieht!)

    Die erste Klasse wird so gut wie nie freigegeben. Da hat der Autor mal Glück gehabt. Oft scheint er nicht mit der Bahn zu fahren. (Wer fliegt, hat immer einen Sitzplatz. Menschen, die mal fliegen, müssen ja die absoluten Zwangsneurotiker sein. Oder Autofahrer erst!) Und mit behinderten Menschen sheint er auch keine Kontakte zu haben.

    Schuld sind also die Kunden, die von Berlin ins Ruhrgebiet die Bahn nehmen wollen und sitzen wollen anstatt die wohl des Autors nach viel ökologischere Alternative zu nehmen und innerdeutsche Kurzstreckenflugzeuge zu benutzen oder mit dem eigenen Luftverpester durch die Gegend fahren.

    Ist der Autor eigentlich Berliner? An dieser Mißbildung, die Berliner Hauptbahnhof genannt wird, haben auch Behinderte, die auf ihren Zug warten, kaum eine Chance angesichts der knappen Sitzgelegenheiten mal sitztend auf ihrem Zug am Bahnsteig zu warten!!!

  • 8G
    889 (Profil gelöscht)

    "Aber Menschen, die allein reisen und sich vorher ... eine Sitzplatzreservierung besorgt haben, ... wollen Planungssicherheit."

     

    Es ist leider genau umgekehrt: Wer keine Reservierung hat, für den ist mittlerweile fast schon planungssicher, dass er sich durch zwei Drittel des Zuges wühlen muss, bis er einen unreservierten Platz findet.

  • In einer nahezu vollbesetzten Bahn stehe ich ja lieber, als mich zu setzen. Meinetwegen auch zwei Stunden. Gerade im Verbindungsteil zwischen zwei Waggons ist das fast wie surfen. Wenn mich nur nicht immer überfreundliche Schaffner auf irgendwelche Sitze nötigen würden, die erst auf deren Anweisung von Nebensitzern, die diese für Taschen, Notebooks und sonstigen Hausrat benötigen, freigeräumt wurden. Und alles nur meinetwegen. Für gewöhnlich will man ja auch gar nicht neben jemandem sitzen, der niemanden neben sich sitzen haben wollte, weil er sein Heimbüro kurzfristig in den Zug verlegen musste und Geschäfte von großer Tragweite mit Peking abwickeln muss. Aber die Entscheidung wurde einem ja dann abgenommen. Von einem Schaffner, der nur Gutes im Sinn hatte und nun vor Freude strahlt, erfolgreich geholfen zu haben. Also bedankt man sich und setzt sich auf das Plätzchen, das sich ungeachtet tatsächlichen Ausmaßes enger und beinahe unbehaglicher anfühlt als die Zugtoilette.

  • Chapeau, Herr Schächtele, selten so gelacht! Ich fühle mich in Ihrer Bahngeschichte fast wie auf der Rajabahn nach Brocknapur. Sie meinen, ich war irgendwo im tiefsten Indien? Weit gefehlt: Eine Szene, ähnlich der auf Ihrem treffenden Bahnbild, spielte sich zum Einheitstag 2010 auf der Brockenbahn im Harz ab. Mein Freund und ich kamen mit Mühe auf die Plattform zwischen den Waggons; ist ja ein altes Bähnchen, das sich da zweimal um den höchsten Berg des Harzes windet, bevor es den Gipfel erreicht. Und so bekamen wir eine frische Brise um die Ohren, wurden von den Leib an Leib gepressten Mitreisenden gut gewärmt - und ersparten uns die muffige Luft im vollen Abteil. Ich bin froh, dass ich solche Züge nicht reservieren muss...

  • S
    schmiddy

    Journalisten, die Bahn fahren, wollen es nur den Brummi-Fahrern zeigen. Von wegen "meiner ist 14 Meter lang".

  • Sein Triumph mit der ersten Klasse sei dem Autor vollen Herzens gegönnt, auch wenn das Ganze doch eher ein bisschen nach einem Pennäler-Traum klingt.

     

    Ich werde allerdings auch weiterhin reservieren und den – bezahlten – Sitzplatz (dieser Aspekt wurde ja irgendwie vergessen zu erwähnen, die Rede war nur vom irgendwie „besorgten“ Platz - aber vielleicht möchte der Auto mit dem leicht schwäbisch klingenden Namen ja lieber prinzipiell die paar Mücken sparen?) dann auch gnadenlos in Anspruch nehmen.

     

    Ob nun mit meinen Kindern reisend (dann sowieso erst recht) oder ohne sie. Knieprobleme nehme ich da verglichen mit der Aussicht auf eine Fahrt im Gang gern in Kauf. Und wer weiß, vielleicht sitzt mir ja auch eine schöne Frau gegenüber? Oder fahren die nur erster Klasse?

     

    Und wenn es bei dieser meiner furchtbar egoistischen Aktion eben den Herrn Schächtele trifft, dann kann er sich ja wieder ins große blaue Abenteuer mit der ersten Klasse und den dortigen Beauties stürzen.

     

    Allerdings bleibt die Frage: Worüber beklagt er sich als ein echter Freigeist vor dem Herrn dann eigentlich mit so vielen Worten?

    • G
      gastname
      @Matthias:

      Puhh...Humor ist nicht ihre Stärke hm?

  • CD
    Cuni Dingsda

    Sonntag, 10. Nov 2013, ca. 18 Uhr: Geschlechtsakt mit ... Danach Tatort im Ersten!

     

    Montag 09:02 Uhr: ICE Richtung Hannover, Wagen 23, Platz 56.

     

    Ich find's geil, immer alles genau planen zu können. Überaschungen? Brauch ich nich'!!! ;-)

    • @Cuni Dingsda:

      Am Sonntag Abend werden Sie aber doch eine Überraschung erleben.

  • D
    Dingo

    Oh mann, das ist ja mal wieder herrlich. Leute, die keinen Bock drauf haben, sich die ganze Fahrt in überfüllten Zügen die Beine in den Bauch zu stehen, sind jetzt laut dem Autor also Sicherheitsfanatiker. Schön, dass man in der Bil.. ääh ihn der Taz so unsinnige, simple Verallgemeinerungen finden kann.

  • Z
    zyx

    Probleme haben taz-Redakteure denke ich. Erstens ist das Reisen mit dem Zug meist kein "Ausbruch aus dem Alltag", sondern schlicht die Notwendigkeit von A nach B zu kommen (beruflich oder privat. Zweitens gibt es einige vernünftig eGründe für die Platzreservierung, zum Beispiel, weil man schweres Gepäck nicht durch den ganzen Zug schleppen will, auf Suche nach einem freien Platz. Drittens hat der Autor Glück gehabt. Er durfte in die 1. Klasse. Ich sage: Eine Ausnahme.

  • S
    sylke

    Und fuer diese Nicht-Geschichte ohne wirkliche Pointe wurde Platz eingeraeumt?

  • Hm. Wenn ich Bahn fahre, dann meistens alleine. Mit Sitzplatzreservierung. Weil ich keinen Bock habe, vier Stunden zu stehen. Und weil mir beim Fahren gegen die Fahrtrichtung kotzübel wird, ich meinen Mitreisenden aber nicht ins Gesicht reihern will, reserviere ich sogar zwei gegenüberliegende Plätze am Tisch, damit ich auch garantiert einen in Fahrtrichtung kriege.

    Und nein, ich plane meinen Geschlechtsverkehr nicht voraus.

    • B
      bahnfahrer
      @Aufrechtgehn:

      eine wunderbare kolummne, da zahl ich gerne

    • S
      sonne
      @Aufrechtgehn:

      Danke für den Tip mit den 2 gegenüberliegenden Reservierungen!

  • P
    Peter

    Ich halte die Prämisse hier für fragwürdig: Eine Autofahrt ist ja auch kein "Ausbruch aus der Banalität des Alltags", sondern meist Alltag. Wenn das Problem chronisch überfüllte Züge sind, dann sind ja nicht die Mitfahrenden dafür zur Verantwortung zu ziehen (deren Alternative wohl das Auto oder in dem Fall auch ein Flugzeug gewesen sein könnte), sondern der Platzmangel (der in diesem Fall ja strukturell zu sein scheint, denn ansonsten hätten kaum so viele Reisende die Notwendigkeit gesehen, zu reservieren).

  • W
    Widerborst

    Kai Schächtele:

    "...Menschen mit Sitzplatzreservierungen planen auch ihren Geschlechtsakt...."

     

    genau - "und zeigen auch armen Wanderern den falschen Weg."

     

    Da schau her: - so alt wie meine Kids erste Runde und Industrielandschaft kennt der studierte Herr Journalist Kategorie

    - Wat-sün-de-Bure-widder-lustig -

    via Sindelfingen,Augsburg, Berlin - erkennbar nur vom Hörensagen.

    Is also nie mit der Kinokarte am Freitag Nachmittag aus der Wohnung expediert worden;

    tja, wie Meine immer unverholen sagen: klar, Generation G 7 !

     

    Und dann die Schönmalerei via Bahn und den gesteckt vollen Zügen;

    vermutlich reisen Sie in einem anderen Land;

    bis diese auf dem Geld aller und mehrfach geschaffene, aber kackfrech privatisierte DB sich mal bequemt, Abhilfe zu schaffen für was auch immer (schon gar nicht durch Entlastungszüge wie früher, weil die Parzellen ja miteinander konkurrieren)- da ist der halbe Zug erfroren oder erstickt oder was weiß denn ich.

     

    ps ich reserviere, weil ich es gegenüber z.B. Familien nicht ganz fair finde, im wie gewöhnlich übervollen Nahverkehr,aber auch längst ähnlich ausgelasteten IC/ICE meine Krüppelkarte zu ziehen.