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Kolumne WortmeldungDie Realität sieht anders aus

Nur ein Studium macht fit für den Arbeitsmarkt? Von wegen! Immer mehr Akademiker machen sich bald selbst Konkurrenz.

Müssen die alle studieren? Bild: dpa

W ie jeder Wahn sitzt auch der Akademisierungswahn in den Köpfen. Es handelt sich um realitätsferne Vorstellungen, die allerdings Einfluss auf Politik, Gesellschaft und Individuen nehmen. Zu diesem Wahn gehört die fixe Idee, dass nur ein akademisches Studium für den globalisierten und hoch mobilen Arbeitsmarkt der Zukunft vorbereiten könne.

Repetitive Tätigkeiten würden in Zukunft weniger nachgefragt, daher verliere die berufliche Bildung an Bedeutung. Das ist eine realitätsferne Vorstellung, schon deswegen, weil es zahlreiche akademische Berufe mit einem hohen Anteil repetitiver Tätigkeiten gibt und zahlreiche nicht akademische Berufe, die Improvisationstalent, schnelle Auffassungsgabe und hohe Mobilität verlangen.

Im Kern des Akademisierungswahns steht die Abwertung aller Berufstätigkeiten, ja generell von Aktivitäten, die haptischer oder sozialer Natur sind, die eine Nähe zu Dingen oder Menschen verlangen. Die über Jahrzehnte erfolgte kulturelle Abwertung beruflicher Bildung ist in Verbindung mit der in der Mittelschicht zunehmend verbreiteten Abstiegsangst zu einem machtvollen gesellschaftlichen Movens geworden, das sich von Argumenten nur schwer erschüttern lässt.

Bild: dpa
Julian Nida-Rümelin

Julian Nida-Rümelin lehrt als Philosophieprofessor in München und war unter Gerhard Schröder (SPD) Kulturstaatsminister.

Die oft selbst erst zur Mittelschicht aufgestiegenen Eltern üben massiven Druck aus, damit ihre Sprösslinge das Abitur erreichen; in der fälschlichen Annahme, dass nur das Abitur die Zugehörigkeit zur Mittelschicht sichern könne.

Die soziologischen Daten sprechen für Deutschland eine ganz andere Sprache: Der überwiegende Teil der Mittelschicht hat keinen akademischen Berufsabschluss. Besonders grotesk ist die Vorstellung, dass die traditionell starke Rolle beruflicher Bildung und die über alle Jahrgänge hinweg niedrige Akademikerquote in Deutschland die soziale Mobilität behindere.

Hohe Akademikerquote, hohe Arbeitslosigkeit

Das Gegenteil ist leicht belegbar: Die "Bildungsgroßmacht" Großbritannien mit einer doppelt so hohen Akademikerquote und aktuell 64 Prozent Studienanfängern pro Jahrgang hat nicht nur eine doppelt so hohe Jugendarbeitslosigkeit und ein niedrigeres Bruttoninlandsprodukt pro Kopf, sondern weist im Vergleich zu Deutschland auch eine katastrophal geringe soziale Mobilität auf. Deutschland ist zusammen mit den skandinavischen Ländern und Kanada in der Spitzengruppe der sozial mobilsten Industrieländer.

In der Tat hat sich das deutsche Bildungssystem, zusammen mit dem österreichischen und dem schweizerischen, seit den späten siebziger Jahren über Jahrzehnte hinweg widerspenstig gezeigt, und erst seit etwas mehr als einer Dekade kommt diese Dynamik in Gang, die seit Jahrzehnten von Deutschland gefordert wurde.

In der Fortschreibung wird dies dazu führen, dass fast fünf Millionen Stellen nicht akademischer Fachkräfte zwischen 2010 und 2030 unbesetzt bleiben werden, wie das Bundesinstitut für berufliche Bildung prognostiziert, während in dieser Zeit zusätzlich - trotz demografischer Schrumpfung - 1,7 Millionen Studienabsolventen auf Jobsuche gehen werden. Dies wird zu einem wachsenden Teil unterwertiger Beschäftigung führen, zu weiteren Verdrängungen und in der Folge zu einer Fehlsteuerung des Bildungswesens.

Aufwertung beruflicher Bildung

Wir brauchen eine Neujustierung, die sich durchaus in vernünftigen Bahnen lenken lässt, zumal eine moderate Anhebung der Akademikerquote um 50 Prozent von gegenwärtig 18 Prozent auf 27 Prozent der Bevölkerung sinnvoll zu sein scheint. Damit diese immer noch mögliche Entwicklung nicht verfehlt wird, ist allerdings eine Vielzahl von Maßnahmen nötig, zu denen die Aufwertung beruflicher Bildung, auch in Gestalt der staatlichen Förderung von Berufsschulen, gehört, eine stärkere Integration handwerklicher und sozialer Praxis in den gymnasialen Bildungskanon und vor allem eine bessere Bezahlung derjenigen, auf die Wirtschaft und Gesellschaft in Zukunft noch weit mehr angewiesen sein werden als heute. Dazu zählen besonders die betreuenden und pflegenden Berufe.

Mein zentrales Argument ist aber kein ökonomisches, sondern ein kulturelles: Ich plädiere für eine humane Bildung, die nicht selektiert, sondern differenziert, die Menschen mit ganz unterschiedlichen Begabungen und Interessen jeweils attraktive Angebote unterbreitet und es ihnen ermöglicht, ihren eigenen Weg der Bildung und des Berufs zu finden. Ich plädiere für eine Kultur des Respekts, also das Gegenteil von elitärer Abschottung, akademischer Elite.

Ich plädiere für Gleichwertigkeit, nicht für Gleichartigkeit, für Diversität im jeweiligen Bildungssystem und zwischen unterschiedlichen Bildungssystemen weltweit. Chancengleichheit wird nicht durch Nivellierung und Homogenisierung, sondern durch Diversität und gleichen Respekt gesichert.

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3 Kommentare

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  • "Im Kern des Akademisierungswahns steht die A b w e r t u n g aller Berufstätigkeiten, ja generell von Aktivitäten, die haptischer oder sozialer Natur sind, die eine Nähe zu Dingen oder Menschen verlangen."

     

    Und für diese Abwertung sorgte die SPD unter Gerd Schröder mit ihrer A b w e r t u n g von Arbeit bzw. ihrer Idee, dass Armut zu Wohlstand führt. Dass daraus ein Akademisierungswahn entstanden ist, ist m.M. eine steile und unhaltbare These.

     

    Es gibt doch ein stark sinkendes Angebot an Ausbildungsplätzen und es gibt jetzt schon einen massenhaften Konkurrenzdruck von Akademikern, teilweise sogar um Pratika, die nicht mal zur Vollzeitstelle führen.

     

    Warum ist das so?

    Gute Frage, aber vielleicht hat das was mit sehr niedrigen Wachstumsquoten zu tun?

     

    Deutschland ist mit politischer Absicht ein statisches Land geworden. Hier geht's nicht steil nach Oben, sondern mit 1,0 Prozent fast im stagnativen Bereich. Dabei melden Wirtschaftsforschungsinstitute sogar einen Schub privater Nachfrage, aber er bewirkt nicht 2,0 oder 3,0 Prozent Wachstum.

     

    Einen Schub auf dem Arbeitsmark gibt in Deutschland nur bei Wachstumsraten von plus 2,5-3,0 Prozent. Alles darunter fällt spärlich aus. Und wer soll dann sein Unternehmen, seine Behörder mit Akademikern zuflastern?

     

    Es fehlt der Bedarf. Und das hat was mit Ökonomie zu tun, nicht mit einem Wahn. Es ist die bittere wirtschaftliche Realität in Deutschland, die hier zum tragen kommt.

  • Der A.-Wahn sitzt in den Köpfen, das ist wahr. Allerdings nicht unbedingt in den Köpfen derer, die länger eine Schulbank drücken als sie sitzen bleiben müssten. Diese Leute reagieren nur. Der Wahn sitzt in den Köpfen derer, die Jobs vergeben dürfen – und sich mit der Wahl des geeignetsten Bewerbers nicht unbedingt gleich übernehmen wollen.

     

    Auf jede halbwegs gut dotierte, erträgliche Stelle kommen heutzutage mehrere geeignete Bewerber. Leider bedeuten viele Bewerber nicht nur viel Ehre für den ausschreibenden Betrieb, sondern auch viel Stress für die Personaler, die auf der Grundlage eines Stapels mit winzigen Passbildern beklebter A-4-Zettel zu entscheiden haben, welche 10 der 100 angetretenen Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch geladen werden sollen.

     

    Wer als Nur-Personaler keine Ahnung von der Stelle hat, die er besetzen soll, der weiß auch nicht, ob darauf "ein hohe[r] Anteil repetitiver Tätigkeiten" anfällt oder ob doch eher "Improvisationstalent, schnelle Auffassungsgabe und hohe Mobilität" benötigt werden dafür. Fehler machen mag er vielleicht trotzdem nicht. Da ist es schade, dass der Chefs in spe nicht weiterhelfen kann, weil er zwar dichter dran an dem Job, jedoch manchmal auch etwas eitel. Weswegen er am liebsten eine eierlegende Wollmilchsau anstellen würde. Das hilft dem Personaler auch nicht weiter.

     

    Die Rettung bietet da der Wahn. Wer eine Uni abgeschlossen hat, so geht der Wahn, der sei zu allem fähig. Er hat ja schließlich Intellekt bewiesen, Durchhaltewillen und die Fähigkeit zur Ein- bzw. Unterordnung. Was braucht der Mitarbeiter mehr an Qualifikation in einem Land und einer Zeit wie dieser? So gut wie nichts. Der Rest ergibt sich peu à peu. Sehr praktisch auch: Wer nicht so viel Erfahrung hat, der lässt sich deutlich leichter lenken und kommt dem Vorgesetzten nicht gleich pampig.

     

    Das ist kein Wahn. Das heißt Win-Win. Respekt kann den Gewinnern nur gefährlich werden. Logisch plädieren wird da nicht viel helfen.

  • 1G
    10236 (Profil gelöscht)

    "Deutschland ist zusammen mit den skandinavischen Ländern und Kanada in der Spitzengruppe der sozial mobilsten Industrieländer."

     

    Mi dem bloßen Vergleich "Einkommen Vater" vs "Einkommen Sohn/Tochter" wird die soziale Mobilität sehr stark verkürzt und dazu noch sehr vergangenheitsbezogen dargestellt.

     

    Aufwendiger geht es auch:

    http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=15746

    und hier sieht man unter "Bildung", dass Deutschland bei der Heterogenität der Bildungsqualität mit 68% deutlich über dem OECD-Schnitt (42%) liegt. So viel zur Chancengleichheit.