Kolumne Wirtschaftsweisen: Die Dialektik der Fliegenzählung
Insekten sind schädlich – aber auch äußerst nützlich: das Insektendilemma. Eine Veranstaltung im Naturkundemuseum suchte nach Lösungen.
Am 20. und 21. März fand im Naturkundemuseum ein Kongress über Insekten statt. Seitdem das Insektensterben für Schlagzeilen sorgt, gibt es oft solche Veranstaltungen. Aber dieser „Tag der Insekten“ war etwas Besonderes, weil er von Hans-Dietrich Reckhaus organisiert wurde: einem Hersteller von Insektenvernichtungsmittel, der mit 60 Mitarbeitern täglich 100.000 Packungen Insektizide produziert. Schon vor der Langzeitstudie des Krefelder Insektenforschervereins, die einen Rückgang der Insekten um über 70 Prozent feststellte, fragte er sich: „Ist ein Dauerwachstum wirklich die richtige Firmenstrategie?“ Und: „Wie viel Wert hat eine Fliege?“
Zunächst entwickelte der Unternehmer einen Fliegenvernichter ohne Insektizid. Dann engagierte er zwei Konzeptkünstler, die sich Gedanken machen sollten, wie man das Produkt vermarkten könne. Das taten sie auch – und kamen zu dem Schluss: „Ihr Produkt ist Scheiße. Sie müssen Fliegen retten.“ Jedes Produkt tötet 190 Fliegen. Reckhaus sagte sich: „Wenn wir 1.000 Fliegen töten, müssen wir 1.000 Fliegen retten.“
Mit den Künstlern zusammen konnte er dafür ein ganzes Dorf gewinnen: Die Bewohner retteten 950 Stubenfliegen, eine hieß Erika – sie starb eines natürlichen Todes, allerdings nicht in Deutschland, sondern in der Schweiz. Das letzte Bild von ihr befindet sich als Foto unter Glas in der Firma von Reckhaus. Sie personifiziert das „Insekten-Dilemma“: Einerseits sind sie schädlich, andererseits extrem nützlich – und zwar ein und dasselbe Insekt. In etwa könnte man das auch über Hans-Dietrich Reckhaus sagen, dessen dialektisches Wirken ihn vom Saulus zum Paulus machte. Seine Mitarbeiter fürchten bereits um ihre Arbeitsplätze.
Auf der Veranstaltung im Naturkundemuseum berichtete er, dass seine Aktivitäten in seiner Branche natürlich nicht gern gesehen würden. Der nationale Verband der Insektenvernichtungsmittelhersteller habe ihn schon seit sechs Jahren nicht mehr eingeladen. Neben seinen Insektiziden schafft er immer mehr „Kompensationsflächen“, wo sich Insekten ungestört vermehren können, und er will noch mehr Lebensräume für Insekten schaffen mit seinem Geld.
Auf seinem Insektengift „recozit“ brachte er den Warnhinweis an: „Tötet wertvolle Insekten“. Dazu meinte er, der inzwischen Träger des deutschen Vordenkerpreises und des Schweizer Ethikpreises ist: „Trau keinem Insektenbekämpfungsprodukt, das nicht selbst vor sich warnt.“ Er hat dazu mehrere Bücher geschrieben, eins heißt: „Warum jede Fliege zählt“.
Und seine Firmenprodukte, die über sich aufklären, setzen sich langsam durch: Als Großabnehmer gewann er bereits die Drogerieketten dm und Rossmann sowie den Discounter Aldi-Süd. Außerdem engagieren ihn immer mehr Unternehmen, damit er ihre ungenutzten Grünflächen in Insektenwiesen umwandelt, dafür will er auch etwas herstellen. „Die Insekten sind bedroht, deswegen muss ich von meinen Produkten weg,“ erklärte er.
Der Direktor des Naturkundemuseums Johannes Vogel stellte Reckhaus das Haus kostenlos zur Verfügung. In seiner Rede führte Vogel aus, was sie für Anstrengungen unternehmen, um vor allem das junge Publikum für den Erhalt der Artenvielfalt zu sensibilisieren. Pro Jahr sterben 58.000 Tierarten aus.
Das Naturkundemuseum als „Haus des Todes“, in dem Millionen tote Tiere liegen und jährlich drei- bis vierhunderttausend neue hinzukommen, habe da eine besondere Verantwortung. Die Insektensammlung des Museums, die allein 30 Millionen Tiere umfasst, soll zukünftig auf Webseiten präsentiert werden. Geplant sind ferner Aktionstage und Patenschaften für Insekten.
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