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Kolumne Wir retten die WeltPanik ist produktiv

Bernhard Pötter
Kolumne
von Bernhard Pötter

Verbrechen, Impfen, Wildschweine – immer haben wir Angst vor dem Falschen. Dabei müssten wir uns vor dem Richtigen fürchten.

Liebt den Müll, nicht das Plastik: ein wildes Schwein in Berlin Foto: dpa

E in herrlicher Samstagmorgen, die Sonne scheint, die Vögel zwitschern und wir machen mit Freunden Frühjahrsputz in der Natur. Meine Tochter und ich stehen am Schildhorn, einem Uferstück des Wannsees, und sammeln wie jedes Jahr Müll aus der Umwelt. Alles ist friedlich.

Plötzlich explodiert zwischen uns das Unterholz: Eine kapitale Wildsau schießt aus ihrem Versteck, pflügt fünf Meter neben uns durchs Schilf und galoppiert zurück in den Wald. Wir stehen erstarrt, aber nichts ist passiert. Schwein gehabt. Trotzdem schlägt mir das Herz bis zum Hals. „Mann, habe ich mich erschreckt!“, sagt meine Tochter.

Als unsere Hände nicht mehr allzu sehr zittern, stopfen wir weiter unsere Müllsäcke voll: Mit kaputten Plastiktüten, Schokoriegel-Verpackungen, Feuerzeugen, Personalausweisen, Spritzen, Plastikflaschen, Schuhen, Eimern, mit allem, was so ans Ufer geschwemmt wird.

Klima, Artentod, Chemiegifte – das juckt nur Allergiker

Und mir fällt auf: Vor dem Wildschwein hatten wir Angst. Aber eigentlich sollten wir uns davor fürchten, was wir hier sehen: Der Uferstreifen ist überall mit kleinen Plastikfetzen so durchsetzt, dass man das Zeug gar nicht mehr wegbekommt. Willkommen im Plastozän.

Vor den wilden Schweinen warnt der Förster. Vor den Schweinen, die die Wildnis versauen, gruselt sich niemand. Wie immer fürchten wir uns vor dem Falschen: vor steigender Kriminalität, auch wenn sie nachweislich abnimmt; vor angeblicher „Überfremdung“ in Gegenden, wo kaum MigrantInnen leben; vor Impfungen statt vor Seuchen. Aber wenn wir jedes Jahr in einem verrückten weltweiten Freilandversuch 37 Milliarden Tonnen CO2 in die Luft blasen, Hunderte von Tier- und Pflanzenarten ausrotten oder Tausende von chemischen Stoffen ungetestet auf die Natur und die Menschen loslassen – dann juckt das nur die Allergiker.

Die Bundes„regierung“ verharrt bei grünen Themen in Schockstarre. Sie fürchtet die 10 Prozent AfD und Anti-Ökos mehr als den Frust der 90 Prozent Pro-Ökos. Sie zittert mehr vor dem Verlust von Branchen, die zu Recht aussterben, als davor, dass die Jobs der Zukunft nicht entstehen. Vor den paar lautstarken Bremsern in der Industrie kuscht sie mehr als vor den vielen Firmen, die einen CO2-Preis und Leitplanken für grüne Entwicklung wollen.

Angst und Panik sind keine guten Ratgeber? Kann sein. Ich war bei unserer unheimlichen Wildschwein-Begegnung auch wie gelähmt. Aber wenn die Gefahr langsam kommt, kann Angst helfen, den Arsch hochzukriegen. Denn nichts ist schlimmer als diese bräsige Blase aus scheinbarer Sicherheit, die uns umgibt. Ein paar Prozent Panik wären ganz produktiv.

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Bernhard Pötter
Redakteur für Wirtschaft und Umwelt
Jahrgang 1965. Seine Schwerpunkte sind die Themen Klima, Energie und Umweltpolitik. Wenn die Zeit es erlaubt, beschäftigt er sich noch mit Kirche, Kindern und Konsum. Für die taz arbeitet er seit 1993, zwischendurch und frei u.a. auch für DIE ZEIT, WOZ, GEO, New Scientist. Autor einiger Bücher, Zum Beispiel „Tatort Klimawandel“ (oekom Verlag) und „Stromwende“(Westend-Verlag, mit Peter Unfried und Hannes Koch).
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11 Kommentare

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  • "Vor den paar lautstarken Bremsern in der Industrie kuscht sie mehr als vor den vielen Firmen, die einen CO2-Preis und Leitplanken für grüne Entwicklung wollen."

    hier ist das problem nicht richtig benannt.kleine mittlere und grosse unternehmen hätten am liebsten gar keinen klimaschutz und gar keinen naturschutz.marktwirtschaft ist von sich aus immer rücksichtslos .



    aber nur grosse unternehmen sind stärker als der staat und können den gesetzgeber erpressen oder durch lobbyismus beeinflussen.

  • Genau! Wenn's im Kino brennt muss man raus! Im letzten Hochhausbrand in London hat die Polizei geraten, drinnen zu bleiben, und: keine Panik. Wären sie rausgerannt hätte es viel weniger Tote gegeben. Klar, geordnet raus ist besser als raus mit Panik, aber raus mit Panik ist besser als verbrennen.

  • "So lange mensch sich ruhig und besonnen verhält, ist ein Wildschwein meiner Erfahrung nach völlig ungefährlich, auch mit Frischlingen." (Primitivismuskeule)



    Soso! Kommt aber nicht drauf an welche vermeintlich artgerechten Verhaltensweisen ein Mensch so einer Sau andichtet, sondern ob die Sau so 'ne säuische To-Do-List kennt und akzeptiert.



    Dem Keiler, der mich angegriffen hat, war das alles komplett schnurze. Und in meinem Bekanntenkreis gibt's noch ein paar denen es ebenso erging.



    Nee, diesen Viechern sollte man in freier Wildbahn lieber aus dem Weg gehen.

  • Eine merkwürdige Kolumne. Natürlich bekommt man Angst, wenn plötzlich ein Wildschwein auf einen zugeschossen kommt. Diese Tiere sind keine Kuscheltiere, sondern können durchaus gefährlich sein. Zumindest in dem speziellen Moment. Aber das ist eine Angst oder Panik, die aus der augenblicklichen Situation erfolgt. Das heißt ja nicht, dass man unter einer Phobie vor Wildtieren leidet.



    Genau so hinsichtlich der Kriminalität. Wenn man überfallen wird oder sich in einer Situation befindet, die unübersichtlich ist (nachts allein im Park), haben die meisten Menschen Angst. Aber das heißt ja nicht, dass man vor Menschen generell Angst hat.



    Insofern verstehe ich zwar was uns der Autor sagen will, finde die Kolumne aber merkwürdig aufgebaut.

    • @Katharina Reichenhall:

      Es geht darum, dass wenn sich ein Wildschwein in die Stadt verirrt oder irgendwo ein Wolf gesichtet wird, Politiker alle Hebel in Gang setzen. Dann wird gewarnt und Jäger auf das Tier angesetzt teilweise ohne Rücksicht auf die Kosten. Wenn die Gefahr aber nur schleichend dafür jedoch sehr real kommt, ist man plötzlich wieder Sparfuchs. Vergleich Bankenkrise und Wohnungsnot. Oder Krieg und Kriegsprävention.



      Ich finde den Aufhänger des Artikels sehr treffend.

    • @Katharina Reichenhall:

      Einfach nochmal lesen, auf sich einwirken lassen.

      Da geht es darum, dass die "abstrakte" Angst vor solchen (punktuell konkreten) Gefahren (Wildsau, Wölfe, Kriminalität, Ausländer) unsere kollektiven Entscheidungen stärker beeinflusst, als der realen Gefahr angemessen.

      Wohingegen wir (kollektiv) die realen Gefahren (Erderwärmung durch CO2, Plastikmüll, Artensterben, Hungerkatastrophen durch Lebensmittelspekulation, Kriege) einfach nur verdrängen.

      Unsere entscheidungsprozesse sind somit falsch herum.

      Besser jetzt?

    • @Katharina Reichenhall:

      So lange mensch sich ruhig und besonnen verhält, ist ein Wildschwein meiner Erfahrung nach völlig ungefährlich, auch mit Frischlingen. Mein Eindruck ist immer, dass die Menschen den Umgang mit Wildtieren einfach nicht mehr gewohnt sind und aus ihrer Zivilisiertheit heraus irrationale Ängste entwickeln. Wobei ich meine Wildschwein-Erfahrungen im Wald gesammelt habe und nicht in der Stadt - macht vielleicht schon einen Unterschied!?

    • @Katharina Reichenhall:

      Einfach ein Lückenfüller, man ist erst mal am nachdenken.



      Ist ja auch schon mal was.

  • ... und vor dem Tod wird sich am meisten gefürchtet, dabei ist es normal zu sterben um anschließend tot zu sein. ;-)

  • Die Auswirkungen von Mikroplastik auf den Menschen sind weitgehend unerforscht, während die Auswirkungen einer Wildsau auf den Menschen nachhaltig bekannt sind.

  • Ohje, bitte Panik durch Angst ersetzen.



    Aus Panik totgetrampelte Menschen sollten bereits ein Gegenbeispiel darstellen.

    Panik, als Vergleich von unkontrollierten Stressreaktionen, führt zu verminderter Denkfähigkeit und damit die Selbstbeherrschung sowie Beherrschung der Situation.



    Angst hingegen kann man lernen und verlernen, also auch den Umgang damit lernen.



    -> Der Artikel erklärt das gut, aber benutzt unsachliche Definitionen.



    --> Ein Wildschwein kann man durch aggressives Verhalten (Tiere können Angst riechen) von einem Angriff abhalten und dafür trainieren.



    [Im Medienbusiness nennt man das Framing und Nachsetzen zur Überzeugung von Mehrheiten und Präsenz auf der Straße]