Kolumne Wir retten die Welt: Meine Waschmaschine bleibt
Technischer Fortschritt und mehr Lebensqualität hängen unmittelbar zusammen. Doch wie genau, das ist nicht so klar.
M eine 19-jährige Tochter hatte unlängst einen Unfall mit dem Rad. Keine Verletzungen, nur ihr zehn Jahre altes Handy ging zu Boden und zu Bruch. Ich schlug ihr vor, mein Fairphone zu übernehmen. Selbst hätte ich mir dann die aktuelle Edition des Smartphones mit dem Gute-Gewissen-Faktor zugelegt.
Doch das wollte sie nicht. Im Gebrauchthandy-Shop in Berlin-Schöneberg wählte sie wieder ein betagtes Modell – ohne Internetzugang, Google Maps, Spotify, aber immerhin mit Kamera. 40 Euro sollte das kosten. Großzügig bot der Verkäufer an: Garantie bis morgen! Reicht ja, um zu testen, ob das Teil funktioniert. Flink fügte er hinzu: „Hält 30 Jahre.“ Daraufhin verlangte ich 30 Jahre Garantie. Darüber wollte der Geschäftsmann jedoch nicht verhandeln.
Bestsellerautor und Ökovisionär Harald Welzer sagt, dass meine Tochter kein Einzelfall sei, sondern zur Avantgarde gehöre. Viele seiner Studenten würden Mobiltelefone benutzen, die – in die Welt des Verkehrs übersetzt – einem Opel Admiral von 1965 ähneln. In seinem Buch „Die smarte Diktatur“ fordert Welzer, sich der digitalen Lebensweise zu verweigern, denn die löse keines der Menschheitsprobleme, weder die Klimakatastrophe, den Zwang zum Wirtschaftswachstum noch die zunehmende soziale Spaltung zwischen Arm und Reich.
Wir, die Fortschrittsopfer
Mir geht diese These zu weit. Unsere Waschmaschine löst diese Probleme ebenfalls nicht. Bringe ich sie deshalb zum Schrott und wasche meine Socken per Hand? Viele andere scheinen das ähnlich zu sehen. Bei der Genossenschaftsversammlung dieser Zeitung soll Welzer gefordert haben, dass alle ihre Smartphones wegwerfen. Angeblich gab es eine Menge Applaus. Über einen Haufen iPhones auf der Straße konnte ich aber nichts in Erfahrung bringen.
Ich habe Zweifel an Welzers Forderung – und ihrer Durchsetzungskraft. Kann man sich dem technischen Fortschritt überhaupt verweigern? Reißt er uns nicht einfach mit? Vor unserem Supermarkt traf ich kürzlich einen Bekannten – linker Ökonom, intelligenter Typ. Ich erzählte ihm, dass mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Computer mittlerweile Texte von der Länge einer DIN-A4-Seite so gut schreiben können, dass man nicht unbedingt mehr Journalisten dafür braucht.
Oje, nickten wir zwei älteren Herren, bald werden auch hochqualifizierte Autoren und Wirtschaftsforscher wegrationalisiert. Scheißfortschritt. Empört euch!
Ruckzuck jedoch nahm unser Gespräch diese Wendung: Wir waren uns einig, dass es sehr lästig ist, lange Interviews abzutippen. Kann nicht mal jemand eine gut funktionierende Software für Spracherkennung entwickeln, fragte ich? Mein Bekannter empfahl mir die neue Siri-Funktion auf den Apple-iPads. Die spare wirklich Zeit, lobte er enthusiastisch.
Bessere Lebensqualität durch technischen Fortschritt
Da standen wir also, wir Fortschrittsopfer. Gerade noch aufgeregt über die eigene Wegrationalisierung waren wir einen Atemzug später bereit, uns der technischen Revolution an den Hals zu werfen. Warum nur? Weil technischer Fortschritt mehr Lebensqualität verspricht: Zeitersparnis, schnelle Kommunikation mit vielen Freunden, Informationen aus aller Welt frisch auf den Bildschirm. Aber was bedeutet Lebensqualität?
Ein umstrittener Begriff. Meine Tochter sagte kürzlich: „Ich bin der Meinung, dass das Facebook-Apple-iPhone-Instagram-Zeitfresser-Rumgedaddel-Ding die Lebensqualität eindeutig nicht verbessert, sondern dies nur vorgaukelt.“ Gerade wollte ich ihr konkurrierendes Konzept so richtig auseinandernehmen, als es in unserer Wohnung dunkel wurde. Stromausfall in halb Kreuzberg. Meine digitale Welt brach zusammen. Sie dagegen setzte sich auf ihr analoges Rad und besuchte ihren Freund. So ganz live und persönlich. Punktsieg Tochter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Die Wahrheit
Der erste Schnee
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen