Kolumne Wir retten die Welt: Eine Frage der Entscheidung
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann sagte jüngst, dass Verzicht nie funktioniert hätte. Doch da liegt er völlig falsch.
M eine Frau sitzt am Frühstückstisch und blättert in der Zeitung. Sie liest ein Interview mit Winfried Kretschmann Superstar. „Hier“, sagt sie und hält die Zeitung hoch, „Kretschmann sagt: Verzicht, das hat noch nie funktioniert.“ Sie nimmt einen Schluck Kaffee und blickt zu mir über den Tisch. „Außer bei meinem Mann.“
Nun ja. Vielleicht habe ich einmal zu viel gegen ein Easyjet-Wochenende in Lissabon gestänkert. Und der Familie dafür den Herbst im zugigen Wendland zugemutet. Vielleicht sollte ich nicht so die Augen verdrehen, wenn die Wurst nicht aus dem Bioladen kommt. Oder es im taz-Laden so herrlich überflüssigen Kram gibt.
Ich gebe ja zu: Ich bin auch nicht konsequent. Und vor allem eine Spaßbremse. Manche Freunde verschweigen mir ihre Urlaubspläne, weil sie nicht hören wollen, dass man nach Paris auch mit dem Zug fahren kann. Oder ob sie gegen das Kraut in ihrem Schrebergarten jetzt wirklich Monsantos „Roundup Ready“ spritzen. Eine déformation professionelle, gewiss. Und Sie, geneigte Leserinnen und Leser, kennen ja am besten den alarmierenden Zustand Ihres ökologischen Sündenkontos. Die Trekkingtour bei Einheimischen in Sri Lanka hat Ihnen letztens die CO2-Bilanz eines ganzen Jahres Carsharing verhagelt.
Aber Gottvater mit der Meckifrisur liegt trotzdem völlig falsch. Verzicht funktioniert sehr gut. Es kommt nur darauf an, worauf. Gerade die Menschen, die sich keinen Verzicht predigen lassen, merken oft überhaupt nicht, was sie so vermissen. Seltsamerweise bedeutet der „Verzicht“, der seinen Horror bis in die Stuttgarter Staatskanzlei verbreitet, das bewusste Weglassen von Dingen, die nett, aber nicht notwendig sind: die dritte Flugreise im Jahr, das Zweitauto, die erste Liga im Konsum. Also: von Luxus. Wenn wir diese Dinge nicht missen wollen, sind uns andere Dinge eben unwichtig – und zwar exakt die Sachen, die man eigentlich im Poesiealbum unter der Rubrik führt: „Was wirklich zählt im Leben.“
Kein Verbummeln wie Omas Schal
Also verzichten wir, weil wir ja nicht verzichten wollen, schnell und ohne viel Nachdenken: auf den öffentlichen Raum unserer Städte, den wir den Autos überlassen; auf eine Wiese voller Kräuter, Kröten und Krabbeltiere, wenn hier der neue Primark gebaut wird; auf die Alpengletscher, auf die Ruhe eines Tals ohne Autobahnanschluss, auf Stadtluft ohne Erstickstoff; auf Felder, in denen Vögel und Feldhasen leben statt nur die Krähen der Agrarwüsten. Und am schnellsten verzichten wir darauf, was wir im Poesiealbum „das Erbe der Menschheit“ nennen: den tropischen Regenwald, das Breitmaulnashorn, Grönland in Weiß. Auf Tuvalu und Kiribati. Und auf deren Bewohner.
Das allgemein akzeptierte Wort dafür ist „Verlust“: an Tierarten, Lebensqualität oder Inselstaaten. Aber das ist eine bequeme Lüge. Wir wissen genug über den Zustand der Welt, um einzusehen: Die Orang-Utans auf Borneo oder die Straße als Spielplatz verbummeln wir nicht wie den alten Schal von Oma.
Wir verzichten auf sie, weil wir Entscheidungen treffen, jeden Tag. Wer autogerechte Städte baut, verzichtet auf Freiräume. Wer Palmöl anbaut, verzichtet auf Menschenaffen. Wer fliegt, verzichtet auf Venedig.
„Die allermeisten Menschen wollen nicht weniger“, sagt Kretschmann. Doch. Wir wollen viel weniger. Wir sollten uns nur entscheiden, wovon.
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