Kolumne Vollbart: Vom geregelten Leben
Ein Tag im Neuköllner Jobcenter, dem Ort, an dem Regeln am allergewissenhaftesten befolgt werden. Das entbindet vom Denken und von der Verantwortung.
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R egeln sind Regeln. Normen sind Normen. Willkommen in Deutschland. Willkommen in Berlin. Ein Tag im Jobcenter Neukölln an der Mainzer Straße – dem wahrscheinlich tristesten Ort in der Stadt. Ich begleite L. dorthin. Und wie immer stehen die alten Security-Männer dort, wie immer haben die Fenster keine Hebel, und wie immer kann die Dame am Schalter nicht weiterhelfen. Stattdessen wiederholt sie denselben Satz, immer und immer wieder. Das Mantra lautet: „Das macht keinen Sinn, aber die Regeln müssen befolgt werden.“ Natürlich, klar, deswegen funktioniert ja auch alles so gut hier.
In den Neunzigern haben sich alle in Deutschland damit gebrüstet, wie hervorragend hier Dinge klappen – Pünktlichkeit, Politik, Straßenbau. Oft bekam ich dann gesagt: „Wir wollen keine italienischen Verhältnisse“. Italien war eben für diese Leute nicht so „Erste Welt“. In Amerika, der „freien“ und echten „Ersten Welt“, dachten die Menschen zur gleichen Zeit, Deutschland habe keine Elektrizität.
Zwanzig Jahre später haben wir ganz offensichtlich „italienische Verhältnisse“ in Berlin – aber nur eben so ein bisschen. Die Post kommt, wann sie will, jedes Bauprojekt braucht viele Jahre, um fertiggestellt zu werden, und die Fahrradwege erinnern an kleine italienische Dorfstraßen.
Aber was hier noch keiner geschnallt hat: Regeln oder Normen zu hinterfragen. Eine Sekunde zu pausieren, nachdenken und sich fragen, ob das eigentlich alles Sinn macht. Stattdessen müssen die Regeln befolgt werden.
Und der Ort, an dem die Regeln am gewissenhaftesten befolgt werden, ist das Jobcenter. An was sollen sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sonst klammern? Der Satz, der am im Jobcenter am häufigsten fällt ist: „Das sind die Regeln, da können wir nichts machen.“
Regeln zu befolgen ist einfach, entbindet vom Denken, gibt Verantwortung ab. Im Raum bleibt immer die Angst stehen. Angst vor dem Regelbruch und seinen Folgen: dem Zusammenbruch einer ganzen Stadt. Damit das nicht passiert, braucht es vor allem eins: mehr Security-Personal – jetzt, überall; aber ganz besonders in Neukölln.
Überhaupt scheint Neukölln der Kiez mit dem meisten Sicherheitspersonal in der Stadt zu sein. Im Jobcenter, in den Arkaden, im Supermarkt. Und eben auch an queeren Orten. Im SchwuZ gibt es gleich mehrere, die die Gäste von A nach B scheuchen und die obligate Taschenkontrolle vollziehen. Klar, die schwachen Homos müssen eben beschützt werden vor den bösen Neuköllnerinnen und Neuköllnern – so wurde schließlich vor dem Umzug aus dem Bergmannkiez immer behauptet.
Also, keine Panik, die Sicherheitsleute sind grundsätzlich nur da, um auf uns alle aufzupassen. Und natürlich damit wir die Regeln auch immer brav einhalten – sonst bricht das ganzen System zusammen, und Anarchie würde herrschen.
Ich würde mich allerdings noch beschützter und viel, viel sicherer fühlen, wenn die Security-Leute alle Gewehre tragen würden. Schließlich ist Neukölln eine richtig raue Hood, vor allem bei Dunkelheit. Böses Neukölln.
Eine Frage bleibt: Warum steht eigentlich kein Sicherheitspersonal vor dem Fotoautomaten in der Flughafenstraße? Dieser Schwarz-Weiß-Automat ist das Zeichen der Gentrifizierung. Er bedeutet wirklich das Ende der Alten Welt. Jetzt werden Tausende Touristen davor Schlange stehen und dämliche Fotos von sich machen. Denkt keiner an die Nachbarn? An die Kinder? Der Kiez ist verloren. Ade, Neukölln. Die Gentrifizierung ist unaufhaltsam. Sie kommt, schleicht immer weiter bis in den Norden vor. Es gibt kein Entkommen.
Und dabei denken die ganzen Idioten, die Gentrifizierung würde wegen den ganzen hippen Cafés rund um den Herrfurthplatz voranschreiten. Nein, der Fotoautomat ist schuld. Holt die Knarren raus. In Italien haben sie schließlich auch welche.
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