Kolumne Über Ball und die Welt: Ungarn demonstrieren gegen Orbán
Vor einem Stadion protestieren ungarische Linke gegen Victor Orbán. Der rechtsnationale Premier okkupiert den Fußball mit einem riesigen Bauprogramm.
W as hat sich die ungarische Linke denn da für ein Ziel ausgesucht? Die Demonstration, zu der einige Gruppen jüngst aufgerufen hatten, führte sie ausgerechnet vor ein Fußballstadion in einem Dorf nahe Budapest. Ganz unbekannt ist die 4.000 Menschen fassende Pancho-Arena in Felcsút mit seinen 1.800 Einwohnern nicht. Der örtliche Fußballverein spielt in Ungarns erster Liga, und bei der U19-EM im Sommer ist die Arena Austragungsstätte.
Die Bekanntheit kommt aber vom rechtsnationalen Premierminister Victor Orbán, der aus Felcsút stammt, dessen Wochenendhaus nur 20 Meter vom Stadion entfernt ist und der ein großer Fußballfan ist. Entsprechend wird Orbán Prunksucht und diktatorisches Gehabe nachgesagt. Der Vorwurf klingt einleuchtend, zumal in Krisenzeiten ja gerne Politik aus der Psyche und den Marotten vermeintlich starker Männer erklärt wird. Bloß, er stimmt nicht. Die Arena, die jüngst eingeweiht wurde, ist nur ein Projekt in einer bemerkenswerten Reihe von Stadionneubauten.
Im ostungarischen Debrecen wurde gerade das Nagyerdei-Stadion für 20.000 Menschen eröffnet. Bald ist auch das neue Flórian-Albert-Stadion in Budapest für 22.500 Zuschauer fertig. Nächstes Jahr wird im nordostungarischen Miskolc ein 15.000-Plätze-Stadion gebaut, im zentralungarischen Székesfehérvár eine 14.000-Leute-Arena und im westungarischen Szombathely eine für 10.000 Zuschauer. Und dann gibt es bald noch das Ferenc-Puskás-Stadion in Budapest für 65.000 Leute, eingebettet in die Außenschale des früheren Volksstadions.
Bei diesem riesigen Programm – zusätzlich werden noch 30 bestehende Fußballstadien der ersten und zweiten Liga modernisiert plus insgesamt 1.000 Amateurplätze – fällt das kleine Stadion in Victor Orbáns Heimatdorf kaum auf. Und definitiv handelt es sich bei dem Bauprogramm nicht mehr um die private Marotte eines durchgeknallten Rechtspopulisten. Die Fußballförderung durch Orbán und seine Partei Fidesz erweist sich vielmehr – leider – auf vielen Ebenen als ziemlich klug. Das ist zum ersten ein Infrastrukturprogramm, denn zu den Stadien führen Straßen, das Verkehrsnetz wird dichter.
Staatsaufträge für die Bauindustrie
Zweitens sind solch riesige Bauprojekte seit jeher Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahmen – und da Fußball ja, wenn er hernach in den erbauten Stadien gespielt wird, auch Spaß machen kann, sind sie sogar sinnvoller als die Löcher, die der britische Ökonom John Maynard Keynes immer wieder ausheben und zuschütten lassen wollte. Drittens versorgen Orbán und seine Leute die Finanziers ihrer Partei, indem sie der Bauindustrie Staatsaufträge ohne Ende zuschustern. Viertens hat die Regierung ihre Sportförderung auch steuerpolitisch günstig gestellt: Firmen, die an Vereine spenden, können das fast komplett absetzen.
Fünftens ist Fußballförderung, erst recht, wenn sie der Jugend gilt – und Victor Orbán hat auch schon eine Stiftung für den Fußballnachwuchs gegründet – eine Sache, gegen die kaum jemand seine Stimme erheben möchte. Sechstens schließlich können sich fußballerische Erfolge irgendwann außenpolitisch auszahlen; bekanntlich hat Orbán manches angestellt, was sein Land außenpolitisch isoliert.
Wie passend wäre es da doch, wenn bald eine goldene Generation im ungarischen Fußball heranwüchse, die an die Wundermannschaft der frühen fünfziger Jahre anknüpfen und Orbáns Ungarn ein modernes und sympathisches Image verleihen könnte. Falsch ist die Demonstration der ungarischen Linken vor dem Fußballstadion von Felcsút also nicht. Schön wäre nur, wenn sie vor mehr Stadien stattfände. Und das wären keine Demonstrationen gegen den Sport, sondern die Rückholung des Fußballs in die Gesellschaft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind