Kolumne Schlagloch: Der zitternde Moment
Algerien, Sudan und Iran: in all diesen Ländern gibt es Umbrüche, vielleicht Revolutionen. Wir können das nur mit stillem Respekt beobachten.
I nmitten der fühlbaren politischen Müdigkeit Europas tut es gut, den Blick nach Algier und Khartum zu richten, wo Hunderttausende auf großer Bühne bürgerliche Selbstermächtigung inszenieren. Die Schönheit des Augenblicks, es gilt sie festzuhalten, auch als Lehre für uns, was immer später geschehen mag.
Handelt es sich um Revolutionen? Aus Sicht der Politikwissenschaft, die dafür einen nachhaltigen Wechsel der Eliten verlangt, ist die Lage in beiden Ländern offen. Aus philosophischer Sicht aber ist die Revolution nicht durch ihr späteres Ergebnis definiert, sondern sie ist genau jener zitternde Moment, dem wir gerade von ferne beiwohnen können: wenn sich Menschen in großer Zahl als Ausgangspunkt von etwas Neuem verstehen.
Wenn sie sich selbst als an einer Schwelle stehend empfinden (so nannte es Foucault als Augenzeuge der iranischen Revolution 1978/79), einem Wellenkamm, von wo aus sie mit geschlossenen Augen sehen können, was eben noch unvorstellbar war. Und wenn dann tatsächlich das Unmögliche geschieht: An einem Wochenende werden in Algerien fünf Tycoons verhaftet, am nächsten die mächtigsten Chefs der Geheimdienste.
In solchen zitternden, vergänglichen Momenten trauen die Menschen einander als soziale Wesen, selbst unter widrigsten Umständen, und zeigen sich quasi in neuer Haut. In der sudanesischen Hauptstadt werden am Rande des Dauer-Sit-ins trotz drückendster Not und trotz jener hohen Preise, die den Aufstand auslösten, keine Geschäfte geplündert. Und gegenüber dem Militär herrscht eine Abwesenheit von Furcht, wie sie historischen Augenblicken eigen ist.
Frauen in der ersten Reihe
Über die Disziplin und Friedfertigkeit, mit der in Algier gerade zum elften Mal in Folge Hunderttausende auf die Straße gingen, notiert die Algerienkennerin Sabine Kebir, es präsentiere sich hier „eine zu machtvoller Selbstorganisation fähige Bürgergesellschaft“, wie sie einem Land, das in den Neunzigerjahren vom Bürgerkrieg zerrissen wurde, nicht zugetraut worden sei.
Frauen nehmen sich hier wie dort Plätze in der ersten Reihe. Sudanesinnen, die sich eben noch für das Tragen einer Hose bestrafen lassen mussten, fordern nun die Hälfte der Ämter einer künftigen Regierung.
Es ist an dieser Stelle ratsam, den Blick über die arabisch-afrikanischen Geschehnisse hinaus auf Iran zu weiten. Auch dort zeigt sich, unter ganz anderen Umständen, vermehrt das Phänomen der furchtlosen Rede und des bürgerlichen Aufbegehrens. Und während der jüngsten Flutkatastrophe war eine landesweit organisierte Lehrervereinigung für die Verteilung von Hilfsgütern glaubwürdiger als der Staat.
Vor allem aber verbinden Iran, Sudan und Algerien, dass die Geschichte in allen drei Länder ein Epos der Auflehnung gegen westliche, weiße Vorherrschaft schrieb. Der Mahdi-Aufstand im Sudan des späten 19. Jahrhundert war eine religiös inspirierte Rebellion gegen die ägyptisch-britische Herrschaft und die erste zumindest kurzzeitig erfolgreiche antikoloniale Erhebung in Afrika. Algerien wurde durch den Befreiungskrieg gegen Frankreich zum Mythos. Und Iran zwang den Westen, den Islam als politische Kraft zu sehen.
Respekt für die Protagonisten des Neuen
Heute sticht gerade in diesen drei Ländern ins Auge, dass es keinerlei Befreiungsideologie oder -theologie mehr gibt. Der Nationalismus, für den Algerien einst stand, hat seinen Glanz längst verloren; der politische Islam führte im Sudan und in Iran zu autoritären Zuständen und dysfunktionalen Systemen. Keine Theorie, kein Modell steht mehr bereit, an dem sich jenseits der westlichen Metropolen Bewegungen im Kampf für Freiheit und Selbstbestimmung orientieren könnten.
In Iran stärkt der Mangel an einer System-Alternative seit Langem die Islamische Republik. Die Opposition in Algerien und Sudan hat nun obendrein die ägyptische und die syrische Erfahrung vor Augen. Den Betrug durch das Militär, das in Kairo die Opposition umarmte, um sie hernach zu zerstampfen. Das tragische Umkippen in Gewalt, das den syrischen zivilen Aufständischen das Heft aus der Hand nahm. Und Antikolonialismus, das zeigen die Parolen, muss heute in mehr als einer Richtung wachsam sein und sich auch gegen den reaktionären Einfluss der Golfmonarchien wenden.
Wir können nur mit stillem Respekt beobachten, wie sich die Protagonisten des Neuen in diesen zerklüfteten Landschaften bewegen. In Algier kursiert etwa die Idee, kommunale Volkskomitees könnten eine Verfassungsdiskussion führen und ihre gewählten Kandidaten dann auf die nächsthöhere Ebene entsenden. Im Sudan sind berufsständische Vereinigungen die wichtigsten Akteure, halb Gewerkschaft, halb Gilde: Ärzte, Anwälte, Lehrer, Apotheker, Buchhalter. Immerhin ein Bündnis der gebildeten Mittelschicht mit den Ärmeren, wie es in Iran kaum gelingt (und auch in Europa nicht).
Islam keine Lösung
Zollen wir also zum Beginn des Ramadan dieser zivilen und gefährdeten Bürgerschaftlichkeit Hochachtung. Denn natürlich sind Khartum und Algier in diesen Wochen auch ein Ausweis muslimischer Kultur und Lebensart. Muslimisch ist eine Bewegung ja nicht erst dann, wenn ein politischer Islam die Szene beherrscht.
Das Freitagsgebet wird in die Protestrituale integriert, markiert ihren Rhythmus, doch gibt Religiöses nicht den Diskurs vor – anders als in Iran 1979, als viele Säkulare beteiligt waren, ohne eine politische Sprache der Säkularität zu besitzen. Heute scheint es umgekehrt: Religion und Religiöse sind beteiligt, aber der Islam tritt nicht als Lösung auf.
Linke in Europa mögen, sofern sie alt genug sind, einen Bezug zu Algerien haben, da klingen Namen wie Sartre und Fanon auf – aber Sudan? Im Mangel an Interesse spiegelt sich das Fremdeln mit einem muslimischen Afrika, und Letzteres ist selbst unter hiesigen Muslimen zu beobachten. Schwarze als Vorbilder? Auch der europäische Islam ist eher eurozentrisch; das wäre gleichfalls ein Gedanke für den Ramadan.
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