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Kolumne SchlaglochMein Garten in Venedig

Kolumne
von Kerstin Decker

Selbsterhaltung durch Expansion lautet die Formel westlicher Existenz oder wie ich zur Sehenswürdigkeit wurde – am Canal Grande.

Urlaub ist die temporär suspendierte Anwesenheitspflicht im eigenen Leben, Schreiben auch. Bild: reuters

N atürlich habe ich die Wohnung genommen. Nicht nur, sagte die Agentur, dass sie sehr schön sei, ganz neu gemacht, sondern sie besitze auch, was es in Venedig eigentlich gar nicht gäbe, einen eigenen Garten.

Schreiben im eigenen Garten mit Blick auf einen kleinen Kanal, nur ein paar Schritte weit vom großen Canal Grande: Was für eine Möglichkeit des Aus-der-Welt-Seins! Was wir Sommer, Urlaub nennen, ist eine Art von temporär suspendierter Anwesenheitsspflicht im eigenen Leben.

Das Schreiben ist es letztlich auch, und hier ließe sich sogar beides verbinden: Das kaum begonnene Afrika-Buch würde sich ganz von allein schreiben, während ich Urlaub mache. Natürlich habe ich die Wohnung genommen. Und dann geschah es.

ist Philosophin und lebt als freie Autorin in Berlin. Letzte Bücher: „Nietzsche und Wagner. Geschichte einer Hassliebe“ (Berenberg Verlag) und „Richard Wagner. Mit den Augen seiner Hunde betrachtet“ (Propyläen).

Ich als Sehenswürdigkeit

Meistens schaue ich erst hoch, wenn ich das Geräusch des Auslösers höre. Auf der kleinen Brücke nebenan stehen die Venedig-Touristen und fotografieren mich, wie sie die Rialto-Brücke oder die alten, zerbröselnden Palazzi fotografieren. Ich bin zu einer Sehenswürdigkeit geworden. Aber warum? Und warum empört mich das?

Manche nicken mir zu, wenn ich sie bemerkt habe, manche rufen auch ein „What a nice office!“ herüber oder wollen wissen, wo sie hier eigentlich sind, denn wen sollten sie sonst fragen als eine richtige Venezianerin, es gäbe ja nur noch Touristen in der Stadt. Aber die meisten gehen einfach weiter. Ich bin also ein bloßes – Objekt?

Objekt ist, wer dem Blick, der auf ihn gerichtet wird, nicht antworten kann, und von dem das, schlimmer noch, auch nicht erwartet wird. Ich bin demnach eine Naturtatsache, wie diese Stadtlandschaft auch, mehr zu ihr gehörend als zu denen da auf der Brücke Ponte Michiel. So ungefähr, überlege ich, nahm auch der koloniale Blick die Landeskinder Afrikas wahr, als er begann, den Kontinent unter sich aufzuteilen. Als ein kurioses Stück Natur, vor allem aber: als ein Stück Natur.

Am 6. Oktober 1889 bestieg der Leipziger Buchhändler Hans Meyer als erster Mensch den Kilimandscharo. Auf seinem Hauptgipfel rief er dreimal Hurra! und hisste die deutsche Flagge. Er nannte ihn Kaiser-Wilhelm-Spitze. Unser größter Berg ist 6.010 Meter hoch, erklärten die Lehrer in einem fernen Land fortan ihren Schülern. Das Land südlich des höchsten Berges Afrikas bis hinunter an die Seen auf der einen Seite und bis an die Küste auf der anderen war seit 1885 deutsches Schutzgebiet, später Kolonie. Hans-Meyer-Gesten kommen heute höchstens noch als Kuriosum in Betracht, meinen wir und wähnen uns äonenfern von denen, die damals Afrika kolonisierten.

Alle Abwässer sind bei mir

Da, schon wieder das Klacken des Auslösers! Ein etwas übergewichtiger junger Mann im weißen Hemd läuft schnell weiter, als mein tadelnder Blick ihn trifft. Meistens gehen die Fotografen ohnehin schnell weiter, denn es riecht nicht gut an meinem Kanal. Im Garten, ja, das muss man wohl sagen, auch nicht. Als ob alle Abwässer Venedigs sich ausgerechnet bei mir sammeln würden. Es gibt diesen typischen Venedig-Geruch, immer ein wenig faulig, immer ein wenig latrinenursprünglich, aber in meinen Garten ist es am schlimmsten.

Eigentlich kann man hier gar nicht arbeiten, oder nur mit zugehaltener Nase. Ja, es ist vor allem Trotz, dass ich hartnäckig sitzen bleibe. Ich habe einen Garten in Venedig und soll ihn nicht nutzen können? Das wäre absurd. Die Luft anhalten und vorwärts! Das ist das ursprüngliche Glaubensbekenntnis der Lebensform, die wir noch immer westliche Zivilisation nennen. Es ist in der Grundschicht eine imperiale Lebensform, bis heute, aber eine dünne Tarnschicht liegt darüber.

Ließe sich die zeitgenössische europäische Durchschnittsmoral, insofern sie sich von selbst versteht und die Grundlage unseres gesellschaftlichen Miteinanders bildet, vielleicht als eine Art von Hausgemeinschaftsethik fassen? Niemand erhebt einen Besitzanspruch auf die Wohnung seines Nachbarn! Kein Mieter darf einem anderen unter seine Befehlsgewalt zwingen! Alle Bewohner gelten grundsätzlich als gleich, sie haben gleiche Rechte und gleiche Pflichten. Und niemand fotografiert ungefragt seinen Nachbarn, dessen Wohnung oder seinen Garten! Das ist es. Aufgrund von Takt muss uns die koloniale Weltanschauung als schlechthin unverständlich und verurteilenswert erscheinen.

Gedankenvoll und tatenarm

Und doch hat unsere egalitäre Nachbarschaftsmoral, zur Weltsicht geweitet, durchaus ihre intellektuellen Grenzen. Bemerkt sie, dass dieses Venedig, das ihr so verzaubert vorkommt, im Grunde das steinerne Andenken der Unterwerfung der Welt ist, soweit sie ihm erreichbar war? Was wir Globalisierung nennen, begann nicht gestern, auch nicht vor einem halben Jahrtausend, sondern noch viel früher. Und Selbsterhaltung durch Expansion lautet bis heute die Formel westlicher Existenz. Wer nachdenkt, lächelt nicht. Vielleicht ist das falsch, ein höfliches Fotomodell lächelt.

Afrika-Flüchtlinge. Am Ende des 19. Jahrhunderts waren es die Europäer, sie flohen von Nord nach Süd, und es ging nicht primär um Unterwerfung des Fremden, sondern um Selbsterfindung in einem von der eigenen Herkunftswelt noch nicht vordefinierten Raum. Es ging nicht nur darum, die Grenzen des Deutschen Reichs zu verrücken, sondern zuerst die eigenen. Afrika als Utopie.

Es waren Voltaire-Europäer, die damals kamen. Wir sind uns da längst nicht mehr sicher, aber ihr Glaubensbekenntnis lautete: Die wahre Schöpfung des Menschen war nicht am Anfang, sie wird am Ende sein! Und der Anblick nicht bestellten Landes war in ihren Augen Aufforderung zur Tat.

Der Anblick nicht bestellten Landes? Mein Garten ist zwar groß, aber streng genommen ist er kein Garten, wenn man einem leicht vermüllten Brachland, auf dem ein Gummibaum und ein weißer Oleanderstrauch wachsen und diverse No-Name-Pflanzen absterben, diesen Titel nicht zugestehen will. Da sitzt eine inmitten einer Wüste, die ein Garten sein könnte, und merkt es nicht. Was für ein Sinnbild des theoretischen Weltverhältnisses! Gedankenvoll und tatenarm. Fotografieren sie mich deshalb?

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