Kolumne Mithulogie: Es gibt nicht den Hinduismus
In Indien demonstrieren fünf Millionen Frauen, da sie den Sabarimala-Tempel nicht betreten dürfen. Die westliche Berichterstattung ist stereotyp.
W as sind fünf Millionen Inderinnen in einer Reihe? Nein, kein rassistischer Witz, sondern eine Demonstration. Protest like a pro! Also berichteten die europäischen Medien über die 620 Kilometer lange #WomenWall quer durch den indischen Bundesstaat Kerala im Vergleich zum #WomensMarch in Washington … nahezu gar nicht.
So weit, so wenig überraschend. Was sind schon fünf Millionen Inder*innen im Vergleich zu 0,5 Millionen Amerikaner*innen? Ich wusste nicht einmal, ob ich lachen oder vor Wut heulen sollte, dass so viele Medien dieses monumentale Ereignis schlicht ignorierten. Wenn nämlich doch darüber geschrieben wurde, dann als eine Version von: „Was wollen die Inderinnen? In den Tempel gehen. Warum dürfen sie nicht? Weil im Hinduismus Frauen während ihrer Periode als unrein gelten.“
Ey, wir sind über eine Milliarde! Glaubt ihr tatsächlich, wir hätten erst jetzt bemerkt, dass aus der Hälfte von uns in regelmäßigen Abständen Blut rausläuft, und würden daraus schließen, dann wäre wohl der Teufel in sie hineingefahren? Falsch, das ist der Film „Der Exorzist“ und nicht „Der Hinduismus“.
Spoiler: Es gibt den Hinduismus nicht, sondern nur die Hinduismen. Und in vielen davon ist Menstruationsblut die beste Flüssigkeit, zusammen mit Sperma und vaginalem Ejakulat. Es ist auch keineswegs so, dass Frauen nicht in die Tempel dürften. Nur halt nicht in den Sabrimala-Tempel – bis der Oberste Gerichtshof Ende letzten Jahres entschied, dass sie doch dürfen. Damit setzte er ein umstrittenes Gerichtsurteil von 1991 außer Kraft, das Frauen den Zutritt aufgrund einer noch viel umstritteneren „Tradition“ verbat.
Die AfD wäre stolz
Was macht man also, wenn die Gemüter erhitzt sind und es nur einen Funken braucht, um sie zum Explodieren zu bringen? Sich zusammensetzen und überlegen, wie man die Gerichtsentscheidung am besten für alle umsetzen kann? Nein, man boxt zwei Frauen mit Polizeischutz in das Heiligtum. Worauf die hindu-nationalistische BJP begeistert aufrief, den Tempel zu blockieren und zu randalieren.
Schließlich stehen in Kerala Wahlen vor der Tür, und mit nichts kann man Stimmen besser fangen als mit öffentlicher Entrüstung. So heizte Premierminister Narendra Modi (BJP) erst vor ein paar Tagen, als allen langsam die Lust am Protestieren ausging, die gewaltsamen Ausschreitungen noch einmal an, indem er den Einlass der Frauen als Hassverbrechen gegen die indische Kultur bezeichnete.
Das sind Methoden, auf die die AfD stolz wäre. Mit dem kleinen Unterschied, dass die BJP in Indien an der Macht ist. Darüber möchte ich mehr lesen!
Aber es ist nun einmal einfacher, über die abergläubischen Inder zu schreiben, die Angst vor der Menstruation haben, als über Politik, die man nicht versteht, weil man sich nicht für sie interessiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands