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Kolumne Minority ReportMenschenrechte, Werte, blabla

Wer Erdoğan wählt, verachtet angeblich europäische Werte. Nach dem EU-Gipfel fragt man sich, was für Werte das sein sollen.

Immer wieder schön: Erdogan mit Özil – ähm Merkel Foto: dpa

G enau eine Woche sind die Präsidentschaftswahlen in der Türkei her – und was soll man sagen? Die Mehrheit will Erdoğan, sie kriegt Erdoğan. Natürlich gab es die üblichen Manipulationen: Wahllokale wurden strategisch zusammengelegt, Stimmen sind verschwunden, der Opposition hat man so gut wie keine Medienpräsenz zugestanden. Und dennoch: Das Wahlergebnis ist zu eindeutig, als dass man es gänzlich verwerfen könnte. Während alle fest von einer folgenden Stichwahl zwischen Erdoğan und seinem stärksten Kontrahenten Muammer Ince ausgegangen waren, erlangte Erdoğan schon in der ersten Runde die absolute Mehrheit.

Damit hatte er nicht einmal selbst gerechnet. Kurz nach Veröffentlichung der Wahlergebnisse kündigte der Präsident eine Rede an, sagte sie schnell wieder ab, und stand dann um drei Uhr morgens doch noch auf dem Balkon seines Palastes und sprach sichtlich überrumpelt: „Wenn alle Politikwissenschaftler der Welt zusammen kämen und jahrelang diese Wahlergebnisse analysierten, sie würden es nicht verstehen.“ Soll heißen: Er checkt es ja selbst nicht.

Wer es hingegen total checkt, sind die Deutschen. Zumindest was das Wahlverhalten der Deutschtürk*innen angeht: So habe die Mehrheit der Wahlberechtigten hier für Erdoğan gestimmt, weil sie „wenig integriert“ seien, „unsere liberale Demokratie ablehnen“ und weil „unsere Wertevermittlung offenkundig zu kurz gekommen ist“. Ich mache kein Geheimnis daraus: Auch mich erschüttert das Wahlergebnis von vergangenem Sonntag. Aber was mir mindestens genauso sehr auf den Magen schlägt, ist die ganze Heuchelei rund um das Thema Türkei. Hier werden von migrantischen Bürger*innen Werte eingefordert, die die Bundesregierung längst selbst missachtet.

Noch mehr Kohle für Erdoğan

Seit Tagen warte ich darauf, dass sich jemand ebenso laut über die menschenverachtenden Beschlüsse des EU-Migrationsgipfels empört. Doch was passiert: Nichts. Ganz Deutschland interessiert sich nur dafür, was jetzt Seehofer sagt, wie es mit der Union weitergeht, was der DFB mit Özil macht. Wegen dem Erdoğan-Foto! Ganz ehrlich: Scheiß auf das Foto. Letzte Woche sind 220 Menschen im Mittelmeer ertrunken, und wir reden immer noch über das Erdoğan-Foto?

Ja, Mesut Özil posierte mit Erdoğan für ein Foto. Ja, Erdoğans AKP-Regime steht für übelste Menschenrechtsverletzungen, die nicht oft und laut genug kritisiert werden können. Aber wie kann es sein, dass auf dem EU-Gipfel vor wenigen Tagen beschlossen wurde, dass eben diese menschenrechtsverletzende AKP-Regierung weitere 3 Milliarden Euro erhält, um die syrischen Geflüchteten schön von der EU fernzuhalten, und keiner empört sich darüber?

Dass jene Geflüchteten, die es doch rüber schaffen, in geschlossene „Lager“ einquartiert werden sollen, dass Menschenrechte in Europa somit endgültig zum Mythos verkommen, und es juckt niemanden?

Keine Frage, die Türkei ist überfordert. Das Land hat schließlich fast dreimal so viele Geflüchtete aus Syrien aufgenommen wie ganz Europa zusammen. Aber wer glaubt, dass die Kohle auch bei diesen Geflüchteten ankommt, ist entweder schlecht informiert oder sehr naiv. Diese Gelder, unsere Steuergelder, wandern nämlich direkt in die Taschen eines Regimes, dessen korrupte Machenschaften mehrmals aufgeflogen und belegt worden sind. Sie sind sozusagen Schmiergeld für den Türsteher.

Und nicht nur das: Eine weitere unbekannte Summe geht an Frontex, der Grenzschutzagentur, die mitunter dafür bekannt ist, dass sie Menschen an den EU-Außengrenzen gewalttätig zurückdrängt. Wenn jetzt noch von europäischen Werten geredet wird, frage ich mich ernsthaft: Was sollen das bitteschön für Werte sein?

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Fatma Aydemir
Redakteurin
ehem. Redakteurin im Ressort taz2/Medien. Autorin der Romane "Ellbogen" (Hanser, 2017) und "Dschinns" (Hanser, 2022). Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift "Delfi" und des Essaybands "Eure Heimat ist unser Albtraum" (Ullstein, 2019).
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