Kolumne Melodien aus Malmö #5: Wie Weihnachten, nur ohne Streit
In einem Wohnwagen haben Chris und Oliver den Weg aus dem Rheinland ins Südschwedische zum ESC zurückgelegt. Sie haben Kräuterlikör mitgebracht.
H inter dem designerisch seit der Einweihnung der Bahnuntertunnelung Malmö aufgehübschten Hauptbahnhof liegt ein früheres Industrieviertel, in dem ein Schlachthaus angesiedelt: Jetzt ist das „Slagthus" eine Location für Kulturevents aller Art. Momentan: der Eurovisionsclub, also die Disko, die Bar, der Meetingpoint, die stets krass bevölkerte Raucherecke vor allem durch Osteuropäer, der Dancefloor. Alles in einem Backsteingemäuer.
Hinter diesem Haus, noch näher an die Ostsee ran, ist ein Parkplatz - und dort stand einige Tage ein ziemlich abgerocktes Teil an Wohnwagen. Beflaggt mit einer Kette an europäischen Fahnen. Es ist definitiv ein Gefährt, das als Antithese zu allem SUV-Protzertum gelten kann. Hier haben zwei Männer Quartier, die sich vor einigen Tagen von Köln aus auf den Weg gemacht haben.
Christoph Horn, Jahrgang 1981, und Oliver Jukic, Jahrgang 1980 – sie haben im Reiseführer von Schweden gelesen, dass es hier ein „Allemansrätt" gibt, also die Erlaubnis, überall im Land wenigstens eine Nacht ohne nähere Erlaubnis durch Behörden zu übernachten.
Jahrgang 1957, Autor und Redakteur der taz, schreibt über den Eurovision Song Contest seit vielen Jahren. Er hat Bücher zum Thema geschrieben, seit 2005 und auch momentan bloggt er auch unter eurovision.de, der ESC-Plattform des in der Bundesrepublik federführenden Senders NDR/ARD, zum Event. Die politischen Begleit- wie Kehrseiten des ESC sind Thema dieser taz-Kolumne.
Horn und Jukic sehen übernächtigt aus. Schon wieder Party irgendeines Landes, das beim Eurovision Song Contest mitmacht. Wohnwagen – nichts anderes kam in Frage, um nach Malmö zu fahren. Viel Geld haben sie nicht, der eine nennt sich Lebenskünstler mit abgebrochenem Studium, der andere ist Ökotrophologe. Was sie wollen, ist so wichtig wie nichts anderes im Jahr: Dabei zu sein beim ESC.
Chris Horn, der Mann ohne Mütze, sagt: „Drei Dinge sind wichtig, in dieser Reihenfolge - ESC, Reisen, Jungs." Und Jukic ergänzt: „Das sind heilige Tage. Wenn ich keinen Urlaub bekommen würde, müsste ich sagen, na, dann generell ohne mich." Der Wohnwagen ist hinter den furnierten Schranktüren voll mit Lebensmitteln. Besser: H-Milch, Bubbelwasser, Alkoholika, Nudeln und Reis, das Notdürftigste, um nicht völlig vom Fleisch zu fallen.
Kräuterlikör aus der Heimat
Ihr Passion ESC ist ihnen so gut wie alles. „Wie Weihnachten", sagt Chris Horn, „nur ohne Streit." Die beiden sind kein Paar, Busenfreunde müsste man sagen. So wie die beiden Weiber in „Absolutely Fabulous". Durch dick und dünn. Beim Interview schaut Chris Horn direkt auf den Catwalk mit dem Roten Teppich, auf dem die 39 Stars und ihre Delegationen stöckeln und wackeln werden. Ob da wohl Natalie Horler von Cascada noch kommt? Chris Horn will ihr ein Geschenk aus Bonn überreichen, einen „ladyliken", wie er sagt, Kräuterlikör. Ein Gruß aus der Heimat sozusagen.
2.000 Euro wird der Tripp aus dem Rheinland ins Südschwedische am Ende kosten – „ein Jahresurlaub kostet auch soviel, hat aber einen geringeren Spaßfaktor". Von ihrer Art sind in Malmö einige Hundert Fans zugegen – in mehr oder weniger komfortablen Verhältnissen wie in dem Wohnwagen dieser beiden.
Oliver Jukic wie auch Chris Horn sind das, was den Eurovision Song Contest unterhalb der offiziösen Boulevardästhetiken in den Medien zu einem lebendigen Basisprojekt macht. Beide Fans aus Köln – offen schwul, was sonst? – haben sich für den ESC immer schon interessiert. Wobei Chris Horn sogar völlig ohne Defensivgeste sagt: „Ich verstehe nicht, wie man den ESC nicht musikalisch für das Größte halten kann." Im Werkunterricht verstand er nicht, wie man häkelt. Seine Mutter brachte es ihm dabei – und dabei lief eine Vinyl-LP aus dem Jahre 1981 mit den Grand-Prix-Gewinnern von 1956 bis 1981. Gehirnwäsche? Horn sagt: „Nein, auf keinen Fall – wenn sie anderes gespielt hätte, wäre mir vielleicht das Handwerken nicht so leicht gefallen. Aber Grand Prix – das war es definitiv."
1988 sah er als Siebenjähriger erstmals dieses Festival – mit Céline Dion als Siegerin. Oliver Jukic glaubt sich an Nicoles „Ein bisschen Frieden" erinnern zu können – aber das trifft nicht zu, als man ihn fragt, wie denn das als Zweijähriger gegangen sein soll. „Na, aber ich mochte diese weiße Figur an der Gitarre sehr." Horn hingegen wäre am liebsten wohl selbst ESC-Regisseur. Als Kind hat er mit „Was ist was?"-Heften, Stofftieren und „Alf"-Cassetten den Grand Prix Eurovision im Kinderzimmer nachgespielt.
Unappetitliche Sache
War es denn nicht manchmal schwer, gerade jene Musik zu mögen, die die coolen Jungs nicht hörten? Ist es nicht klar gewesen, das Heterojungs die Limits der Coolness setzen – und wer sie nicht befolgt, als aussätzig gilt? Beide nicken. Jukic sagt, ihm sei das immer egal gewesen – und seine Eltern, bosnisch und deutsch, hätten ihn da keineswegs besorgt angeschaut, wenn er schon wieder für den ESC entflammt war. Und Chris Horn sagt: „Anders als die anderen zu sein, war mir immer recht. Ich bin anders. Und anders anders. Jedenfalls habe ich nie Rock oder so gehört." Spricht er dieses Wort aus, klingt „Rock" wie „Ekel" oder „Bäh", auf alle Fälle wie eine ziemlich unappetitliche Sache.
Beide wollen an diesem Abend mal früh ins Bett, kurz nach Mitternacht, dann ist Schicht. Sechs Tage noch, dann war es das schon mit dem Finale. Beide sagen: „Nach dem ESC ist vor dem ESC."
Die Lieblingslieder des ESC von Chris Horn: Amina „Le dernier qui a parlé" (1991), Joy Flemings „Ein Lied kann eine Brücke sein" (1975) sowie Friderikas „Kinek mondjam el vétkeimet?" (1994) sowie von Oliver Jukic: Joy Flemings „Ein Lied kann eine Brücke sein" (1975), Marianne Mendts „Musik" (1971) und Antiques „(I Would) Die For You" (2001). Aktuell: Cascada mit „Glorious"
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