Kolumne Macht: Opfer ohne Gesicht
200 Mädchen wurden im Norden Nigerias entführt, kaum ein Reporter war je dort. Stattdessen erklärt sich Michelle Obama per Pappschild solidarisch.
ber sieben Jahre ist es her, dass die damals dreijährige Engländerin Madeleine McCann aus einer portugiesischen Ferienanlage verschwand. Das Interesse der Öffentlichkeit an dem Fall ist jedoch noch immer ungebrochen, und auch die Polizei hat die Hoffnung nicht aufgegeben, ihn lösen zu können.
Für die Eltern dürfte es einer der ganz wenigen tröstlichen Aspekte dieser grauenvollen Situation sein: dass das Schicksal ihrer Tochter weltweit auch Leute nicht gleichgültig lässt, die ihre Familie nicht kennen. Diese Genugtuung hatten Angehörige der mehr als 200 Schulmädchen, die im Norden Nigerias von der Sekte Boko Haram verschleppt worden sind, bis vor sehr kurzer Zeit nicht. Hat sich das nun geändert?
Immerhin erklärt Michelle Obama mit Pappschild per Twitter ihre Solidarität, ihr Mann fordert internationale Mobilisierung gegen die Terrororganisation, Angelina Jolie zeigt sich entsetzt. Ein Staraufgebot für die gute Sache.
Freunde übernehmen heute Aufgaben, um die sich lange die Familie gekümmert hat. Aber bleiben sie auch, wenn es unangenehm wird? Einen Essay dazu lesen Sie in der taz.am wochenende vom 10./11. Mai 2014 . Außerdem ein Gespräch mit Manfred Stolpe. Er war Verkehrsminister, als er an Krebs erkrankt ist. Heute geht es ihm besser, als in manchen Zeitungen steht, sagt er. Und: Warum es exzentrisch ist, normal zu sein. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Man sollte das Interesse am persönlichen Schicksal der Kinder, denen die Versklavung droht, allerdings trotzdem nicht überschätzen. Noch immer haben die Mädchen für die Öffentlichkeit keine Gesichter und keine Biografien, es gibt keine Interviews mit verzweifelten Eltern, keine Gespräche mit Freundinnen aus den Dörfern.
Nur verbrannte Schulbänke
Zu allen Meldungen werden stets dieselben Bilder verbrannter Schulbänke gezeigt. Was bedeutet: Auch zahlungskräftigen Medien scheint die Geschichte nicht bedeutend genug zu sein, um ein Reporterteam loszuschicken. Elend in Afrika? Ist doch keine Sensation.
Etwas anderes, politisch wichtiger, kommt hinzu: Die sich selbst als radikalislamisch bezeichnende Organisation Boko Haram terrorisiert seit Jahren die Bevölkerung im Norden Nigerias, vor allem in den ländlichen Gebieten. Massaker und Überfälle sind fast an der Tagesordnung. Aber erst seit es der Sekte gelungen ist, die Gewalt auch in die Hauptstadt Abuja zu tragen - kürzlich forderten dort zwei Bombenanschläge zahlreiche Opfer -, nimmt der Rest der Welt das nicht mehr achselzuckend hin.
Das liegt wohl weniger am plötzlich erwachten Mitgefühl mit der Bevölkerung als vielmehr daran, dass die neue Stärke von Boko Haram auf internationale Unterstützung hindeutet, und dass die erstaunliche Hilflosigkeit der eigentlich gut trainierten nigerianischen Armee ebenfalls Fragen aufwirft. Gibt es Interessengruppen sowohl im Inland als auch im Ausland, denen Chaos im Norden Nigerias gelegen kommt - und warum?
Wenn alle Beteiligten sich ernsthaft um Antworten auf diese Fragen bemühten, dann könnte das den verschleppten Mädchen vermutlich mehr helfen als der Einsatz ausländischer Militärberater. Weil es ja nützlich ist, einen Gefahrenherd zu kennen, will man ihn bekämpfen.
Nigeria ist einer der kompliziertesten Staaten südlich der Sahara. Scharfe Gegensätze prägen das Land in kultureller, religiöser, sprachlicher und wirtschaftlicher Hinsicht. Solche Verhältnisse sind immer ein guter Nährboden für Gewalt. Das aber bedeutet nicht, dass die breite Bevölkerung - sei sie nun christlich oder muslimisch – Sympathien für eine Terrorgruppe hätte.
Das Etikett „radikalislamisch“, das Boko Haram sich aufgepappt hat, genügt mit Sicherheit nicht, um Unterstützung in Nordnigeria zu finden. Boko Haram hat mit dem Islam nicht mehr zu tun als die fundamentalistische Lords Resistance Army im nördlichen Uganda mit dem Christentum. Die übrigens ebenfalls Kinder entführt und versklavt. Im Kampf gegen derartige Verbrecher wäre es schon mal ein schöner Anfang, wenn man wenigstens ihre Eigendefinitionen nicht übernähme. Das könnte den Blick klären.
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