Kolumne Lügenleser: Treibjagd an die Wahlurnen
Alle Welt soll unbedingt wählen gehen. Vor allem die Erstwähler sind heiß umkämpft. Doch wozu? Ganz ehrlich: Keine Wahl ist auch eine Wahl.
Bald darf wieder gewählt werden. Zwischen Teufel und Beelzebub, zwischen GroKo, Jamaika oder Rot-Rot-Grün. Also zwischen Semmel, Brötchen und Schrippe. Schmeckt gleich, heißt aber anders. Weil man in diesem Land offenbar nicht sagen darf, dass man nicht wählen geht, ohne als Steigbügelhalter von Lord Voldemort zu gelten, schweige ich lieber.
Ich möchte einfach keinen dieser Politiker legitimieren, für mich zu sprechen. Auch keine Spaßpartei. „Aber was ist denn die Alternative zum Wählen?“ schmettern mir die Menschen entgegen wenn sie doch noch raus finden, dass ich meinen Sonntag lieber in der 16-Stunden-Schlange vor dem Berghain (wo ich so gut wie nie anzutreffen bin) verbringen würde, als eingereiht vor einer Wahlkabine.
Ich bin es leid zu diskutieren und schweige weiter. Ist doch toll, wenn ihr an Wahlen glaubt, ich tue es nicht. Ein Freund springt in die Bresche: „Die Alternative? Na wie wär's denn damit, fernab herrschaftlicher Strukturen die solidarische Selbstverwaltung aufzubauen, statt dem Irrtum zu erliegen, den Staat entgegen seiner historischen Rolle zu einem Instrument der Gerechtigkeit zu verbiegen?“ Bäm! Der hat gesessen, denk ich so bei mir und zünde eine Zigarette an, ohne an Helmut Schmidt zu denken. Den kann ich nämlich auch nicht leiden, obwohl er doch so ein sympathischer Kettenraucher war. Die Wählenden aber geben nicht auf.
So was haben sie ja noch nie gehört. Einfach nicht wählen gehen. In vielen Ländern würden sich die Menschen freuen, wenn sie wählen dürften. Leider hat schon meine Mutter es nicht geschafft, mich mit dem „In anderen Ländern…“-Argument zum Aufessen zu bewegen, warum sollte das hier funktionieren? In den Medien läuft derweil die übliche „Leute geht unbedingt wählen, egal wen“-Kampagne. Sollte einen nicht allein die Hysterie der Herrschenden vor dem Nichtwähler stutzig werden lassen?
Besonders die Erstwähler werden umworben. Denn ein Erstwähler ist ein potentieller zukünftiger „Ich wähl schon immer die XYZ-Partei“-Wähler. Und die haben wir am liebsten. Wohin die Treibjagd an die Wahlurnen führt, konnte man vor kurzem auf Youtube begutachten. Bushido traf sich mit Beatrix Storch. Ja, genau. Zum Reden. Während sich der Rapper die ersten Minuten noch wacker schlug und die Mausrutscherin das ein oder andere Mal in Bedrängnis brachte, wurde es spätestens beim Thema „Transsexualität“ besonders absurd. Bushido und die AfD vergewisserten sich gegenseitig, dass sie total für Transgender und dieses ganze Zeug sind.
Unvorbereiteter als die beiden Hauptprotagonisten war nur noch der Gesprächsleiter, ein HipHop-Journalist namens Nico. Bereits bei von Storchs erstem Argument („Die Kriminalitätsrate steigt durch Einwanderung“) hätte jeder Dorfjournalist nach den entsprechenden Zahlen fragen müssen. Stattdessen wurde munter weiter geplaudert. Über Integration. Über den Islam. Und darüber, dass die AfD eigentlich ganz harmlos ist. Und die wichtige Botschaft der Sendung war mal wieder: Hauptsache wählen, Kids! Dabei hab ich meine Wahl längst getroffen. Bushido übrigens auch. Sorry, Kids.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
FDP stellt Wahlkampf Kampagne vor
Lindner ist das Gesicht des fulminanten Scheiterns
Wahlkampf-Kampagne der FDP
Liberale sind nicht zu bremsen
Türkei und Israel nach Assad-Sturz
Begehrlichkeiten von Norden und Süden
Katja Wolf über die Brombeer-Koalition
„Ich musste mich nicht gegen Sahra Wagenknecht durchsetzen“