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Kolumne LiebeserklärungDigitale Jammerlappen

Anja Maier
Kolumne
von Anja Maier

Sigmar Gabriel hat die Netz-Coolios verärgert. Jetzt ergießt sich ein Shitstorm über ihn. Dabei hat er doch nur ganz analog die Wahrheit gesagt.

Hat das Netz gegen sich: SPD-Parteichef Sigmar Gabriel. Bild: dpa

S agt mal, ihr Netz-Coolios, hat sich euer Algorithmus verhakt? So viel Mimimi war ja selten zu lesen in diesem Internet, seit Sigmar Gabriel ehrlich zu euch war. Alles zugetwittert mit „Fies!“ und „Voll die Abwertung!“.

Obendrauf gab es als superharte Konsequenz den Parteiaustritt der Bloggerin Yasmina Banaszczuk, den diese auf frau-dingens.de mit ganz viel Schmerz und, ja, Trauer erklärt hat. Soll keiner sagen, im Netz sei kein Platz für Gefühle. Im real life war sie gezwungen, ihr Parteibuch in einen Umschlag zu stecken, eine Marke draufzukleben und an die blöde SPD zurückzuschicken, die logischerweise auch in der Dokumentenfrage so was von 20. Jahrhundert ist.

Was ist euch denn jetzt konkret wiederfahren, sagt mal? Im analogen Leben hat der Parteichef eine Einladung ausgeschlagen. Anlässlich einer Diskussionsveranstaltung des Stern hatte die Bloggerin Kathy Meßmer Sigmar Gabriel angeboten, ihn „an der Hand zu nehmen“, um ihm das Internet – „meinen Lebensraum, mein Aktionsfeld, meine politische Bühne“ – zu zeigen.

taz am wochenende

Tebartz-van Elst, Brüderle, Guttenberg. Darüber regen wir uns auf. Aber warum? Und was bringt das? Den großen Empörungsvergleich leen Sie in der taz.am wochenende vom 9./10. November 2013 . Darin außerdem: Christian Ströbele ist nun weltbekannt als „der Mann, der Edward Snowden traf“. Aber wie hilft das der Sache des Whistleblowers? Und ein Gespräch über den Glanz im Schund, echte Adelige und Sexwestern: Mit Anna Basener, einer der jüngsten Groschenromanautorinnen Deutschlands. Am eKiosk, Kiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Und was macht der? Statt begeistert die Augen aufzureißen und einfach mal dankbar zu sein, in die bunte Welt der Tweets, der Hashtags und des Tumblr mitgenommen zu werden, würde er Frau Meßmer gern in eine andere Welt mitnehmen: „eine, in der Menschen es verdammt hart haben, durchs Leben zu kommen“. Und zwar, weil er „große Zweifel“ habe, „ob Sie in der Welt, die Sie zu Ihrer erklärt haben, diese Welt, über die ich rede, kennen“.

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Für Banaszczuk, die mit Meßmer befreundet ist, war damit das Maß voll. Wortreich erklärte sie ihren Austritt aus der SPD, mit der sie sich „in den letzten Monaten – eigentlich jetzt seit anderthalb Jahren – beschäftigt hat“, immer engagiert für „innerparteiliche Demokratie, Partizipation und Diversität“. Die Parteistruktur habe ihr „Wertesystem zerstört“ und sie „emotional ausgebrannt“.

Come on! Anderthalb Jahre? Ausgebrannt? Das digitale Gejammer offenbart ein Parteiverständnis, wie es bis 1989 östlich der Elbe gepflegt wurde. Da gab es eine Partei, die sich kümmerte – aber so was von. Wer heute Macht haben will, muss leidensbereit sein. Okay, in der SPD vielleicht mehr als anderswo. Aber gleich austreten, weil der Vorsitzende sagt, was er meint? Leute, also wirklich!

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Anja Maier
Korrespondentin Parlamentsbüro
1965, ist taz-Parlamentsredakteurin. Sie berichtet vor allem über die Unionsparteien und die Bundeskanzlerin.

19 Kommentare

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  • L
    Lyriost

    Die Welt hält den Atem an: Fräulein Yasmina Banaszczuk, alias Frau Dingens, ist mit reichlich Lärm und Abschiedsgetöse aus der SPD ausgetreten, nachdem sie wochenlang versucht hatte, „alte Krusten einzureißen“, „Dinge zu pionieren“ und die Partei auf den richtigen Weg zu bringen, ohne daß der Parteivorstand sie öffentlich dafür belobigt hätte. („All diese Zeit. Ohne Wertschätzung“, „nicht mal eine Mini-Erwähnung“.) „Dabei hatte sie in der Partei „so viele Schwachstellen aufgedeckt“. ("Ich habe letztes Jahr fünf Monate ... meiner Dissertation ... geopfert.") Sie möchte gern „die fünf Monate zurück“haben, also etwa zwanzig Wochen, die sie „damit verschwendete“, sich „an der Partei und ihren Strukturen aufzureiben“. Sie „kann nicht mehr“, hat „die Schnauze voll“, ist „politisch ausgebrannt“, voller „Frust und Resignation und Verzweiflung“. Na schön, nicht jeder Sprung über Karrierehürden kann auf Anhieb gelingen, probiert man es halt bei einer andern Partei oder Vereinigung. Aber weshalb solch ein Theaterdonner, nicht nur auf ihrem Blog, sondern sogar in einer überregionalen Wochenzeitung?

     

    Müssen denn gleich allüberall die Glocken geläutet werden?

    ...

     

    Den vollständigen Kommentar findet man unter www.lyriost.de

    • @Lyriost:

      Warum fällt mir jetzt Hildegard Knef ein?:

      "Für mich soll`s rote Rosen regnen,

      Mir sollten sämtliche Wunder begegnen.

      Partei sollte sich umgestalten

      Und alles Morgen für mich behalten…“

      (leicht modifiziert)

      http://www.youtube.com/watch?v=r6vmMzME7S0

  • Jetzt ist die SPD erledigt.

  • Gabriel hat die einfach mit der Wucht seiner Lebensjahre überrollt und das kann man natürlich live mit so einem Internetsternchen gut.

     

    Das Problem bei den Twittertanten ist ja, dass sie ihre Twitterblasen-Märchenwelt immer mehr mit der Lebensrealität verwechseln, was aber auch Folge des technischen Fortschritts ist. Vor 20 Jahren wäre darauf noch keiner gekommen, weil es schlicht zu mühsam war und ein Commodore 8000 mehr nach Weltall aussah.

     

    Man schaue sich nur mal die Seite der Twittertante an: Mit ausgewähltem Photo und Freunden, Möbeln, eigener Lingo. Die hat sich in Twitter häuslich eingerichtet und bestrahlt aus dieser Blase glückselig alle anderen. Sie attestiert sich, gute Texte zu Feminismus und Flüchtlingen in die Welt hinaus zu schicken.

  • Herr Gabriel hat schlichtweg recht. Die beleidigte Leberwurstnummer von Frau Banaszczuk kenne ich von meinem Vater. Wir stammen aus Goslar, und er hat mal wutentbrannt sein SPD-Parteibuch zurückgegeben, weil dort auch "Kommunisten" das Sagen hätten. Dabei war Sigmar Gabriel, damals unser Bundestagskandidat, doch ganz vernünftig. Sagte jedenfalls mein Ethiklehrer; sagte auch mein Briefmarkensammler-Jugendwart, beide SPD-Mitglieder. Und ich fand: Die beiden sahen das viel nüchterner als mein alter Herr...

  • P
    Purple

    Ich denke, die SPD juckt der Austritt von FrauDingenskirchen etwa genau so viel, wie Frau Dingenskirchen diese "Kolumne" juckt. Aber Frau Dingenskirchen freut sich bestimmt über den vielen Traffic (Für alle Nicht-Netz-Coolios und für Frau MAier: Das sind die Besucher einer Webseite und so etwas wie der Maßstab der "Wichtigkeit" einer Seite) , den dieses... ääähhhmmm... Geschreibsel mitbringt.

     

    Viel Mimimi mit viel Mimimi beantwortet. So what?

  • Kann es sein, dass so mancher Blogger (m/w) an einer starken Störung der Selbstwahrnehmung leidet? In anderen Worten, dass er/sie meint, wichtiger zu sein als er/sie eigentlich ist?

    • S
      Stefan
      @anteater:

      das ist mal mit Sicherheit so...

  • E
    erbse

    Die Gender-Prinzessinnen-auf-der-Erbse-2.0 sind Gegenwind nicht gewohnt. Die sind in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass die Welt sich nur um sie dreht.

    Gabriel hat sehr gut reagiert.

  • 6G
    677 (Profil gelöscht)

    Ich hab's nicht mitgekriegt, aber wenn Gabriel das wirklich gesagt hat - Hochachtung!

    • @677 (Profil gelöscht):

      Hm, also, da ist doch dieses Video in den Text eingebettet. Dort kann man sehen und hören, was genau Gabriel gesagt hat.

  • C
    crema

    Habe gerade mal in einen Vortrag von Yasmina Banaszczuk reingehört, den sie auf ihrer Seite verlinkt. Nach fünf Minuten abgebrochen - war einfach zu anstrengend, und sicherlich nicht aufgrund des Inhalts. Dass jemand so blasiert-herablassend-wichtigtuerisch und gleichzeitig so inhaltlich belanglos und im stilistisch auf abstruse Weise schlecht Vortragen kann (Stichwort: "...äahm"), hat mich wirklich umgehauen. Über sich schreibt die Frau bei jeder sich bietenden Gelegenheit "Banaszczuk promoviert, bloggt und lebt in Hamburg". Wahlweise aber auch "...lebt, promoviert und bloggt.

    Ja doch, wir haben verstanden, Mina Banaszczuk ist eine total intelligente Web-Nervensäge! Mit 18 Management Nachwuchs, dann Toiletten reinigen bei Starbucks, jetzt Bloggen, Twittern und Sascha Lobo-Zitate vorlesen.

    Natürlich ist die SPD ist personell und inhaltlich ziemlich am Ende. Aber ich beneide Sigmar Gabriel kein Stück, wenn er sich regelmäßig mit solchen Tussis rumschlagen muss. Den Themen Feminismus, Chancengleichheit und Netzpolitik tut Banaszczuk mit Sicherheit keinen Gefallen, uns Frauen am allerwenigsten.

  • shitstorm [EDV] Substantiv, maskulin - neuartige Bezeichnung für Stammtischgeschwätz

  • E
    Emmo

    Ich bin kein Freund von Sigmar - und auch nicht der SPD. Aber ehrlich gesagt kann ich Begriffe wie Korruption, Versager, Murksel, Penner etc. im Zusammenhang mit Politikern nicht mehr hören. Viele engagieren sich mehr als 42 Stunden pro Woche, um das Zusammenleben in diesem Staat zu regeln. Idioten gibts überall, und auch Fehler werden auch überall gemacht.

    Also: Hut ab vor Sigmar - und mal ein Dankeschön an die vielen (ehrenamtlichen) Kommunal-, Kreis- und Bezirkspolitiker (und auch Land- und Bundestagsabgeordnete), die täglich Prügel beziehen von Leuten, die noch nie einen Finger für diese Demokratie gerührt haben!

  • D
    dagmar

    Eigentlich war Sigmar Gabriel bis daher recht unsympatisch. Aber das, was er sagte, stimmt. Natürlich nicht diese Erpressungsmethode, "und daher müssen wir eine große Koalition" haben, sondern, dass er endlich - in der Hinsicht - die Wahrheit über Politik und Internet geschrieben hat.

     

    Frau Dingens ist aber zweierlei unglaubwürdig. Sie schreibt "Ich trat einst in die Partei ein, weil ich Ideale hatte, und glaubte, dass diese der SPD entsprächen. Ich trete jetzt aus, weil ich dieselben Ideale hoch halte und nicht zulassen kann, dass diese Parteistruktur mein Wertesystem zerstört und mich emotional ausbrennt."

     

    Tja, wer in die SPD wegen Visionen hat, tja, Arzt, Helmut Schmidt und so.

     

    Ansonsten schreibt sie über ihren "Parteibuch". Aber wenn sie erst seit anderthalb Jahren SPD-"Genossin" ist/war, dann hatte sie nie ein Parteibuch erhalten. Das gibts seit einigen Jahren nicht, sondern eine blöde, unschöne, langweilige "SPD-Card". Ob Frau Dingens es geschafft hat, die SPD-Card zurückzuschicken oder ausversehen ein Exemplar des Gothaer Parteiprogramms o.ä. zum Willy-Brandt-Haus zurückschickte?

     

    Und was sagt Sascha Lobo dazu?

    • R
      RoHe
      @dagmar:

      Inhaltliche Richtigstellung:

      Man bekommt bei der SPD neben der kleinen, roten Karte natürlich auch das klassische Parteibuch mit dazu.

      • D
        dagmar
        @RoHe:

        Aber die Mitgliedschaft wird mit der "SPD-Card" nachgewiesen. Ich weiß es, ich wollte "umsonst zur Probe" beitreten, um dann - ähnlich Frau Dingens vielleicht - schnellstmöglich "den Parteibuch zurückzuschicken". Bringt aber nichts, würde mir gesagt. Das Parteibuch bedeutet nichts mehr. Seit 1863 vielleicht.

  • W
    westernworld

    herr gabriel hat etwas zutreffendes unzutreffend formuliert unter völliger außerachtlassung der technischen anleitung zum sachgemäßen bewohnen von glashäusern.

     

    ja die ganzen ihrgendwasmitcomputernundmedienfuzzis in den großstädten haben und wollen keine ahnung haben vom leben eines deutschlands das weder abitur noch perspektive hat.

    das liegt aber nicht am internet sondern daran das die ganzen kackbratzen in zweiter oder dritter generation bürgerkinder sind.

     

    aber herr gabriel sollte dringend die krokodilstränendrüsen still halten wenn es darum geht die armen leute die es ja ach so verdammt hart haben durchs leben zu kommen zu beweinen.

     

    als führender scherge seines ziehvaters schröder ist uns siggi nämlich ganz vorneweg mitschuldig daran und heute noch stolz darauf den sozialabbau und die umverteilung mit ins werk gesetzt zu haben wegen denen es diesen menschen so beschissen geht.

    • @westernworld:

      Wo sehen Sie Deutschland im Jahr 2013, wenn es die Agenda 2010 unter Schröder nicht gegeben hätte? Es ist leicht, den damals gegangenen Kurs als unsozial zu markieren - denn, das war er auf vielen Ebenen -, aber der Schritt war auch notwendig, damit Deutschland in der Zukunft bestehen konnte.