Kolumne Hosen runter: 366 Probleme und keine Lösung
Terror, Brexit, Trump, Amok, AfD, die Scheidung von Brangelina: Kein Jahr wurde je zuvor so fertiggemacht wie 2016. Eine Therapiesitzung.
E in Zimmer mit schweren Brokatvorhängen und einer Chaiselongue, in der Ecke ein Beistelltisch mit Spirituosen und Kristallgläsern. Das Klischee einer Psychotherapiepraxis aus den 50ern, und doch – es ist wahr. Die Therapeutin sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen in einem absurd niedrigen Sesselchen, der aufgelöste Patient namens 2016 hockt auf dem Rand der Chaiselongue und umklammert ein Kissen.
Therapeutin: Wie geht es uns denn heute?
2016: Ich kann nicht für Sie sprechen, aber ich persönlich habe 366 Probleme und trotzdem weniger Follower auf Instagram als Jay Z. Ich hasse alle.
Therapeutin: Ich finde es gut, dass Sie Ihre Emotionen so deutlich benennen können. Aber das klingt doch ein wenig postfaktisch. Können Sie Ihre Probleme vielleicht konkretisieren?
2016: Wie viel Zeit haben Sie?
Therapeutin: Das kommt ganz auf Sie an.
2016: Nun. Ich werde für alles verantwortlich gemacht, was auf der Welt passiert.
Therapeutin: Halten Sie sich für Gott?
2016: Halten Sie sich für Einstein? Wir sind hier doch nicht bei Dürrenmatt. Natürlich nicht. Holt tief Luft. Ich formuliere es mal anders. Ich bin angeblich immer dann schuld, wenn etwas Schlimmes passiert.
Therapeutin: Zum Beispiel?
2016: Das ging schon in meiner Kindheit los, als es hieß, ich hätte David Bowie ermordet. Als zehn Tage altes Baby! Können Sie sich das vorstellen?
Therapeutin: Nein.
2016: Und dann immer weiter. Terror, Kriege, Brexit, Trump, Amok, AfD, Flüchtlingskrise, die Scheidung von Brangelina, der Tod von Prince, Leonard Cohen, Guido Westerwelle –
Therapeutin: Sie werden also gemobbt.
2016:Niemand mag mich. Alle lehnen mich ab. Ich sei nicht vertrauenswürdig, sagen sie. Pervers. Ein brennender Scheißhaufen. Ein Mörder. Einer schickte mir sogar ein Bild von dem Galgen, an dem ich hängen soll. Ja, Mobbing trifft es ganz gut.
Therapeutin: Hm, hm. Macht sich Notizen. Was macht das mit Ihnen?
2016: Was würde das mit Ihnen machen?
Therapeutin: Bitte keine Gegenfragen.
2016: Immer, wenn was Schlimmes passiert ist, posten die Leute: Liebe statt Hass. Und wenn ich tot bin, tanzen sie auf meinem Grab. Alles Heuchler. Dabei sind sie doch selbst verantwortlich für das, was sie tun.
Therapeutin: Und was denken Sie, wäre eine Lösung?
2016: Vielleicht mal Sport machen, so zum Abreagieren.
Therapeutin: Versuchen Sie es mal mit Yoga.
2016: Nicht ich, die anderen!
Therapeutin: Ich denke, Sie sind auf einem guten Weg.
2016: Steht auf. Wir sehen uns dann im Januar?
Therapeutin: Schweigt. Dann hält sie 2016 die ausgestreckte Hand hin. Alles Gute.
Auf dem Weg nach draußen begegnet 2016 dem nächsten Patienten. Man nickt sich zu. Bevor sich die Tür schließt, hört man noch ein paar Wortfetzen.
Therapeutin: Herzlich Willkommen. Wie kann ich Ihnen helfen?
2017: Ich fühle mich so leer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja