Kolumne Helden der Bewegung: Balotelli jubelt nur selten
Mario Balotelli wird oft an Äußerlichkeiten gemessen, häufig rassistisch, und er diente als Sündenbock. Er aber besinnt sich aufs Wesentliche.
E s ist höchst bedauerlich, dass Italien nicht zur WM nach Russland fährt. Schweden hat die Zuschauer um den Genuss gebracht, Mario Balotteli zu sehen. Nun werden einige einwenden, dass Balotelli ja aktuell gar nicht in die italienische Nationalmannschaft berufen wird, schon seit fast vier Jahren nicht mehr; und dass er sicherlich nicht zum WM-Kader gehört hätte. Das ist ohne Frage richtig; aber hätte Deutschland gegen Italien gespielt, die Vorschauen wären voll gewesen vom oberkörpernackten Mario Balotelli, wie er im satten Grün steht und die Schultermuskulatur auftürmt.
Sein letztes Spiel machte er 2014 gegen Uruguay. Italien verlor 0:1, trotzdem wurde Gianluigi Buffon zum Man of the Match gewählt. Vorrundenaus, porca puttana. Die Trophäe hätte Buffon jedem seiner Kollegen auf dem Heimflug wohl gerne mehrfach auf den Kopf gehauen.
Mario Balotelli war der Sündenbock. Gegen Costa Rica hatte er im Vollsprint Keylor Navas nicht überlupfen können; das war hinterher als Schlüsselszene ausgemacht worden. Im Rückblick lässt sich sagen: eine Chance, ja, eine große wahrscheinlich auch; aber sicherlich keine Mill’schen Ausmaßes. Frank Mill, der unerreichte Meister der vergebenen Großchance. Balotelli deswegen das Ausscheiden anzulasten, das kommt dem „zufälligen Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ gleich, wie der französische Dichter Comte de Lautréamont einst den Zufall umschrieb.
2011 explodierte in Mario Balotellis Badezimmer ein Böller, nachts um eins. Die Feuerwehr kam. Und die Presse. Es wurde viel diskutiert. Am nächsten Spieltag – Mario Balotelli war bei City unter Vertrag – traf er gegen ManU doppelt. Nach dem ersten Tor zieht er des Trikot über den Kopf, darunter ein T-Shirt, worauf steht: „Why always me?“ Ja, warum eigentlich?
„Es gibt keine schwarzen Italiener“
Mario Balotelli wird sich das oft gefragt haben. Er ist immer ausgegrenzt worden in seiner Karriere. Als er bei Inter spielte, zu Beginn seiner Karriere, sangen Juve-Fans in ganz Europa: „Non esistono negri italiani.“ Es gibt keine schwarzen Italiener. Sie sangen es, als ihre Mannschaft gegen Bayern spielte und gegen Bordeaux, und es war klar, wen sie meinten.
Seine Trainer haben ihn häufig nicht geschützt. Er sei kompliziert, divenhaft, hochbegabt, aber irgendwie auch, na ja, unreif. Der muss erzogen werden. Francesco Totti hätte ihm nach einer Inzaghi-Gedächtnis-Schwalbe gern „den Arsch versohlt“, Mancini ihm „aufs Maul gehauen“, weil er nach Toren nicht lächle. Paolo Berlusconi, damals Vizepräsident des AC Mailand, nannte ihn nach seiner Verpflichtung 2013 „den kleinen schwarzen Jungen der Familie“.
Nach dem Tor, nach dem Jubel gegen Deutschland verwandelten sich die Sportseiten in Feuilletons; die Pose musste ausgedeutet werden. Er habe „das Trikot von sich geworfen, das ihn zur Nummer machte und ihn für eine Nation vereinnahmt, in der es eine große Anzahl von Menschen gibt, die einen Menschen schwarzer Hautfarbe verachten“ (taz), er habe sich in ein „Kriegerdenkmal“ verwandelt und gezeigt, dass er „sich nicht für die Kategorien bürgerlichen Anstands und europäischer Manieren interessiert“ (Welt), seine Pose sei „Urzeit“ (SZ). Zum Frisör allerdings müsse er nichtsdestotrotz dringend, denn sein ausgebleichter Iro sehe „irgendwie affig“ aus (tagesschau.de). Und dann: „Affig – ohne Hintergedanken.“ Is klar.
Er jubelt nur selten
Keine der Exegesen kam ohne den Hinweis auf Mario Balotellis Hautfarbe aus; keine löste sich vom Augenschein. Außer jener von Mario Balotelli selbst. Tatsächlich jubelt er noch heute nach Toren nur äußerst selten; und wenn doch, dann nur sehr reduziert. Schließlich, sagte er einst, juble ein Müllmann auch nicht, wenn er seine Arbeit erledige.
Inzwischen spielt Mario Balotelli in Nizza, in 30 Ligaspielen hat er 20 Tore gemacht. An der Peripherie des europäischen Spitzenfußballs ist er wieder zu sich gekommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich