Kolumne Gott und die Welt: Der unangekündigte Besuch
Die Bundeszentrale für politische Bildung reist für „Schnüffeleien“ zum Starnberger See. War Anonymität zu teuer?
G oldener Oktober am Starnberger See. Verlässt man während einer Pause den Vortragssaal der Evangelischen Akademie und schlendert ans Ufer, so tanzt das Licht auf den Wellen und gegenüber zeichnen sich hellblau die Gebirgszüge ab.
In der Evangelischen Akademie Tutzing entwarf Egon Bahr, ein Vertrauensmann Willy Brandts, 1963 jene Strategie des „Wandels durch Annäherung“, die Jahrzehnte später mit zum Zusammenbruch der DDR führen sollte.
Jetzt, in der zweiten Oktoberhälfte des Jahres 2012, wurde dort über „Kindheiten“ diskutiert, ihre Ökonomisierung und die Frage, warum kleine Jungs in der Schule schlechter abschneiden als kleine Mädchen.
Selbstgerechter Tonfall
Trotz angeregter Stimmung herrscht jedoch am Abend in den Gesellschaftsräumen des „Schlösschens“ bei einem Glas Wein helle Aufregung. Mehrere Teilnehmer berichten, dass eine Revisorin angereist sei, unangemeldet! Aus Nachfragen ergibt sich folgendes Bild: Eine Dame habe an der Rezeption in selbstgerechtem Tonfall ein Zimmer verlangt, um den Vorträgen folgen zu können.
Schnell wurde klar, dass die Dame im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung angereist war, um zu überprüfen, ob Mittel, die die Akademie dort beantragt habe, sachgerecht ausgegeben werden. Man muss jetzt nicht schrill werden und von „Schnüffelpraxis“ schreiben, gleichwohl: Sollte sich das Ganze so abgespielt haben, hätte man es mit einem kleineren Skandal zu tun.
Professor für Erziehungswissenschaft in Frankfurt am Main, Publizist und Autor der taz.
Die evangelischen Akademien waren und sind verlässliche Stützen der Zivilgesellschaft. In ihnen wurde die „Neue Ostpolitik“ konzipiert, organisierte sich vor mehr als 20 Jahren die Friedensbewegung; evangelische und katholische Akademien leisteten seinerzeit einen unschätzbaren Beitrag zum jüdisch-christlichen, heute zum Dialog mit dem Islam.
Die von der Bundesregierung getragene Bundeszentrale für politische Bildung aber hat sich von einer Institution des Kalten Krieges zu einer verlässlichen Partnerin ebenjener Zivilgesellschaft entwickelt: Die von ihr herausgegebene Wochenzeitung Das Parlament und deren Beilage „Aus Politik und Zeitgeschehen“ stellen Hintergründe dar und analysieren Entwicklungen, die sonst schwer zu verstehen sind.
Die Bundeszentrale ermöglicht zudem kaum erschwinglichen Büchern zu Politik und politischer Wissenschaft preisgünstige Auflagen, die so ihre Adressaten finden, anstatt im Magazin zu verrotten. Die Website der Bundeszentrale zeichnet sich thematisch durch ein vorzügliches, aufklärendes Informationsangebot aus.
Nur ein Tarntitel?
Der gegenwärtige Leiter, Thomas Krüger, hat ein Leben der Opposition gegen die Parteidiktatur der DDR vorzuweisen. Und nun dies: Wandelt der ansonsten vor allem von der CDU wegen möglichem Linksdrall argwöhnisch beäugte Krüger auf den Spuren von Bundesfamilienministerin Kristina Schröder, die Zuwendungen zur Bekämpfung von Neonazis vom Bekenntnis zum Grundgesetz abhängig macht?
Beschäftigt die Bundeszentrale unangemeldet anreisende Revisoren, die dem Verdacht nachgehen, für ein Seminar beantragte Gelder seien nicht sachgerecht ausgegeben worden? Gerne wüsste man mehr über Ausbildung, Sachkompetenz und Urteilskraft der Revisorin – hat sie Sozialwissenschaften studiert, um den Gehalt der Vorträge bewerten zu können, oder geht sie nur dem Verdacht nach, dass es sich bei einem Seminar über Kindheiten um einen Tarntitel handelt, um verfassungsfeindlichen Zielen nachzugehen? An der Evangelischen Akademie in Tutzing?
Sollten die Berichte der Diskussionsrunde zutreffen, ist damit zu rechnen, dass die Bundeszentrale auf seit Langem bewährte Richtlinien der Haushaltsüberprüfung verweisen wird, auf Routinevorgänge, die eventueller Anfragen des Bundesrechnungshofs wegen auf jeden Fall vorzunehmen seien, handle es sich doch um das Geld der Steuerzahler.
Gewiss, gewiss und gleichwohl: Warum in aller Welt eine – unangemeldete! – Revisorin? Spuken bei der Bundeszentrale Erinnerungen ans Zarenreich herum, wonach angemeldete Revisoren nur Kulissen, Potemkin’sche Dörfer vorfinden? Immerhin hat Nikolai Gogol eine noch immer erheiternde Komödie unter dem Titel „Der Revisor“ verfasst.
Und heute? Auf jeden Fall sollte man den Revisoren so viel Spesen zugestehen, dass sie ihren Aufenthalt bezahlen können, um nicht durch obrigkeitliches Auftrumpfen ihre Anonymität zu enttarnen. Aber wie dem auch sei: Es stimmt ja, Demokratie lebt vom Misstrauen, vor allem von dem gegen die Regierenden. Aber sollte nicht umgekehrt ein wenig Vertrauen, mindestens in die Zivilgesellschaft, herrschen? Mindestens bei der Bundeszentrale für politische Bildung?
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