Kolumne Fremd und befremdlich: Lügen geht immer
Ein Hamburger Unternehmen bietet Krankschreibungen bei Erkältung per Whatsapp an. Ist das eine gute Alternative zum Arztbesuch?
D ie Sache ist doch die, wenn man wirklich so krank ist, dass man nicht arbeiten kann und vor allem eben nicht aus dem Bett aufstehen will, dann will man eben nicht aus dem Bett aufstehen. Das ist ja das Schlechte am Kranksein, dass man aber aus dem Bett aufstehen muss, dass man sich anziehen muss, auf die kalte Straße gehen, mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, um sich in einen Warteraum zu setzen, zwischen lauter andere Kranke, die man noch mit den eigenen Viren versorgt, später einkaufen, zur Apotheke. Danach erst darf man dann krank sein.
Wenn man aber einfach liegenbleiben, und sich für neun Euro krankschreiben lassen könnte? Per Whatsapp? Liegenbleiben ist doch das Beste, wenn man krank ist, oder nicht? Man beantwortet ein paar Fragen, vom Bett aus, und dann sagt der Whatsapp-Arzt, man ist krank und schon ist man wirklich krank. Schön ist das, wenn man krank ist. Schön bequem und angenehm, und auch das Beste für den Kranken. Außer, wenn er eine Krankheit hat, die gar keine Erkältung ist, sondern was anderes, was Gefährliches vielleicht. Dann wäre es vielleicht besser, wenn der Arzt einen ganz schnell ins Krankenhaus schickt. Kann ein Arzt das alles einschätzen, wenn er einen gar nicht sieht?
Wie wichtig ist es, dass ein Arzt einen Patienten vor sich hat, mit seinen eigenen Augen, dass er ihm in seine Augen guckt, ihn wahrnimmt, denn irgendwie bedeutet das ja schon irgendwas, wie einer aussieht, der krank ist, oder nicht? Das findet auch der Präsident der Hamburger Ärztekammer, Perdram Emami, der das zumindest problematisch findet, wenn der Arzt eine medizinische Einschätzung trifft, ohne den Patienten gesehen zu haben.
Andererseits, welche Informationen sammelt ein Arzt zu einer Erkältung? „Haben Sie Fieber?“, fragt der Whatsapp-Arzt. „Ja, weiß nicht, nein“ kann ich antworten. Fragt der Arzt auch. Risikofaktoren, fragt der Whatsapp-Arzt. Chronische Herzerkrankung, Schwangerschaft. Ich kann erzählen, was ich will. Der Whatsapp-Arzt kennt mich nicht. Er trifft seine Entscheidungen aufgrund meiner Informationen. Wenn ich krankgeschrieben werden will, sage ich, ich habe Husten, Halsschmerzen und Fieber. Wenn ich das dem Hausarzt erzähle, dann schreibt er auch krank. Er sagt nicht, ich lüge. Er prüft nicht das Fieber nach. Lügen kann ich immer. Ich kann mich krank stellen, für ein paar Tage. Das geht. Das machen Leute.
ist Schriftstellerin in Hamburg mit einem besonderen Interesse am Fremden im Eigenen. Ihr jüngster Roman „Das Dorf“ ist bei Rowohlt Berlin erschienen.
Montagskranke gibt es in allen Firmen. Es wird halt einfacher, wenn man montags nicht aufstehen muss. Wenn man aufstehen muss, dann kann man auch gleich zur Arbeit gehen. Liegenbleiben, das ist ja der Traum. Aber geht es hier um Drückeberger? Drückeberger lassen sich nicht ausrotten, sie sind nun mal da, mit Whatsapp-Arzt oder ohne.
Aber sollte man dann vielleicht nicht gleich selbst bestimmen können, ob man sich zu erkältet für die Arbeit fühlt? Jeder halbwegs intelligente Mensch wird ja die Fragen so beantworten, dass er doch krankgeschrieben wird, ob die Antworten nun stimmen oder nicht. Es ist also sowieso dann nur eine eigene Entscheidung. Es ist die Entscheidung, gehe ich zur Arbeit oder nicht.
Wie sieht die medizinische Versorgung der Zukunft aus?
Eine Sicherheit per ärztlicher Kompetenz, dass der Arbeitnehmer dann wirklich erkältet ist, gibt es nicht. Gab es nie. Es ist nur einfacher, eine App anzulügen als einen Menschen. Und das ist vielleicht ein zu vernachlässigendes Problem. Aber wie wird unsere medizinische Versorgung in der Zukunft aussehen? In welche Richtung geht es?
Kann es nicht unter Umständen auch etwas Gutes sein, wenn diese lästigen Schnupfenpatienten in den Arztpraxen und sogar in den Notfallpraxen verschwinden, zugunsten der wirklich kranken Menschen? Oder ist das der Beginn einer bedrohlichen Entwicklung, in der ärztliche Behandlung immer anonymisierter und inkompetenter wird, in der die Beziehung zwischen Arzt und Patient keine Rolle mehr spielt und das Gesundheitswesen zu einer Art digitaler Dienstleistung wird, in der sich jeder nach Bedarf bedient, aber niemand nach seinen Bedürfnissen behandelt wird?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestellerautor will in den Bundestag
Nukleare Drohungen
Angst ist ein lautes Gefühl
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen